Im Jahre 1930 avancierte der 22-jährige arbeitslose Buchhalter Albert Ehrismann mit dem Gedichtband «Lächeln auf dem Asphalt» über Nacht zum literarischen Hoffnungsträger und, so der Kritiker Eduard Korrodi, «dunklen Saxofon der Zürcher Literatur». «Man müsste vielleicht, fromm und scheu, / jetzt wieder von der Liebe reden», beginnt eines der Gedichte, «Im Garten blühen die Reseden / und bald ist diese Zeit vorbei.» Bildkräftig und liedhaft, voller Melancholie und Verträumtheit, begeisterten die Verse eine ganze Stadt und brachten deren Regierung, um dem jungen Lyriker ein Stipendium von 2500 Franken und einen Berlin-Aufenthalt zu ermöglichen, dazu, eigens den Zürcher Literaturkredit ins Leben zu rufen. Zum Angepassten wurde der am 20. September 1908 als Sohn eines Magaziners in Wetzikon geborene Autor darum aber nicht. Seinen zweiten Gedichtband, «Schiffern und Kapitänen», schrieb er 1932 im Bezirksgefängnis Meilen, wo er eine Haftstrafe wegen Dienstverweigerung absitzen musste und durch das Gitterfenster auf den Zürichsee schauen konnte. «schiffern und kapitänen, / die im eismeer treiben, / sollt ihr im frühling erregende briefe schreiben», beginnt das Titelgedicht des ganz in Kleinschrift gehaltenen Bandes, und die makellosen Verse zeugen auf bewegend intensive Weise von Verzweiflung und Not, Heimweh und Fernweh, Licht und Dunkel, Ruhe und Sturm. Gedichte schreiben blieb bis zuletzt Ehrismanns Hauptmetier, und weil er damit allein sein Leben nicht fristen konnte, war er sich nie zu schade, auch Aufträge aus der Werbebranche entgegenzunehmen. Er schrieb Slogans für Fondue und Kaffee, lieferte Sprüche für Bierteller, und weil das Sprechen in Versen ihm von Natur aus als etwas vollkommen Selbstverständliches angeboren war, brauchte er sich auch dafür nicht zu schämen. Die Hitlerzeit aber forderte auch ausserhalb der Poesie sein Engagement heraus. 1934 gehörte er zu den Gründern des antifaschistischen Cabaret Cornichon, an der Landi 1939 setzte er mit seinem Oratorium «Der neue Kolumbus» einen weltoffenen Kontrast zum national-konservativen «Eidgenössischen Wettspiel» von Edwin Arnet, und selbst im Privatleben zeigte er noch Mut. So ging er eine nach dem Krieg wieder aufgelöste Scheinehe mit der deutschen Exil-Schauspielerin Katharina Renn ein, die dann allerdings bis zu ihrem Tod nicht nur mit ihm selbst, sondern auch mit seiner zweiten Frau, Annelies Ehrismann, eng befreundet blieb. Sogar als Soldat stellte der einstige Dienstverweigerer, als die Schweiz bedroht war, klaglos wieder seinen Mann, und es erscheint als eine mehr als nur zynische Laune des Schicksals, dass er jene Knieverletzung, die ihn in seinen letzten Jahren an den Rollstuhl fesseln sollte, ausgerechnet bei einer militärischen Übung in Airolo erlitt. Aber nicht einmal die Tatsache, dass er vom Militär nur eine Zehn-ProzentRente bezog, weil er laut den zuständigen Stellen «ja nicht mit den Knien» dichtete, konnte ihn endgültig verbittern. Er blieb ein luzider, kritischer, aber niemals humorloser Analytiker des Zeitgeschehens, und wenn er seine Wohnung auch kaum mehr verlassen konnte: In der Öffentlichkeit war er nach dem Krieg präsent wie kein zweiter Lyriker. Dreissig Jahre lang, von 1952 bis 1982, publizierte er im «Nebelspalter» jede Woche eines jener träfen Zeitgedichte, die nicht zuletzt der Anlass dafür waren, dass ihm die Stadt Zürich 1978 ihren Grossen Literaturpreis verlieh. «Ich habe nie einen so zärtlichen Stil gefunden», notierte Hermann Hiltbrunner 1947 in sein Tagebuch und kam damit wohl dem Geheimnis sehr nahe, warum Albert Ehrismann, der am 10. Februar 1998 mit fast neunzig Jahren starb, Engagement, Kritik und Poesie so nahtlos miteinander verbinden konnte.
Ehrismann, Albert
*Zürich 20.9.1908, ebd. 10.2.1998, Schriftsteller, lebte in Zürich. Ursprünglich Buchhalter, wandte sich E. in der Krisenzeit der 20er Jahre der Literatur zu und debütierte 1930 mit den Gedichten »Lächeln auf dem Asphalt«, die sich durch ihr soziales Engagement und den Einbezug der Stadt als Schauplatz von der damals modischen romantisierenden Naturlyrik unterschieden. Während der Strafverbüssung wegen Dienstverweigerung schrieb E. 1932 die Gedichte des Bandes »Schiffern und Kapitänen«. Mit Ausnahme etwa des Erzählbandes »Der letzte Brief« (1948) oder der beiden Kolumbus-Adaptionen (»Der neue Kolumbus«, dramatischeErzählung,1939; »Kolumbus kehrt zurück«, dramatische Legende, 1948) verfasste E., der sich auch Aufträgen von Presse und Werbung nicht verweigerte, ausschliesslich Gedichte. Am erfolgreichsten war er dabei mit seinen satirischen Zeitgedichten, die er während 30 Jahren wöchentl. im »Nebelspalter« veröffentlichte. Trotz der Fülle seiner Produktion wurde E. niemals zum harmlosen Idylliker. 1972 erschienen die »Gedichte des Pessimisten und Moralisten A.E.«, 1973 die Lyrikbände »Eine Art Bilanz« und »Mich wundert, dass ich fröhlich bin«. Anlässlich seines 80. Geburtstags veröffentlichte er 1988 u.d.T. »Gegen Ende des zweiten Jahrtausends« seine »Postskripte«, die er als Vermächtnis verstanden wissen wollte. E. wurde mehrfach ausgezeichnet, so erhielt er u.a. den C.-F.-Meyer-Preis 1940, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung 1975 und den Literaturpreis der Stadt Zürich 1978. (Schweizer Lexikon CH 91)
Ehrismann, Albert
* 20. 9. 1908 Zürich. - Lyriker. E. wuchs im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl auf u. entschloß sich nach einer kaufmänn. Ausbildung u. einem kurzen Deutschlandaufenthalt für die Existenz als freier Schriftsteller. Er lebt heute in Zürich.
Mit Ausnahme einiger kürzerer Erzählungen (Der letzte Brief. Zürich 1948) u. einzelner dramat. Versuche (Der neue Kolumbus. Zus. mit Kurt Früh. Zürich 1939. Kolumbus kehrt zurück. Zürich 1948) schrieb E. ausschließlich Lyrik, wobei sein Spektrum vom empfindsamen Liebesgedicht über gesellschaftskrit., kämpferische Strophen u. Kabarett-Texte bis hin zum Auftragsgedicht für Werbezwecke reicht. Vom Zürcher Lyrikerkreis um Hermann Hiltbrunner, Paul Adolf Brenner u.a. unterschied sich E. bereits mit dem Erstling Lächeln auf dem Asphalt (Zürich 1930) durch sein bewußtes polit. Engagement (1932 wurde er wegen Dienstverweigerung verurteilt), die größere Publikumsnähe u. den oftmals an Villon erinnernden bänkelsängerischen Ton. Darum konnte E., der sich seine Hellhörigkeit für bedrohl. Entwicklungen stets bewahrte, auch nach 1968 noch als gewichtige aufklärerische Stimme Gehör finden, während die bis 1950 maßgebl. ästhetisierende Naturlyrik eher in Vergessenheit geriet. E., der auch zu den Begründern des legendären Schweizer »Cabaret Cornichon« ge-hörte, publizierte über 30 Jahre hinweg seine satir. Gedichte mit großem Erfolg in der humoristischen Zeitschrift »Nebelspalter«. 1978 erhielt er für sein Gesamtwerk den Literaturpreis der Stadt Zürich.
WEITERE WERKE: Schiffern u. Kapitänen. Zürich 1932. - Sterne v. unten. Zürich 1939. - Das Stundenglas. Zürich 1948. - Morgenmond. Zürich 1951. - Ein ganz gewöhnl. Tag. Zürich 1954. - Die Himmelspost. Zürich 1956. - Riesenrad der Sterne. Zürich 1960.- Heimkehr der Tiere in der Hl. Nacht. Zürich 1965. - Die Gedichte des Pessimisten u. Moralisten A. E. Rorschach 1972. - Eine Art Bilanz. Zürich 1973. - Mich wundert, daß ich fröhlich bin. Zürich 1973. - Inseln sind keine Luftgespinste. Zürich 1977. - Gegen Ende des zweiten Jahrtausends. Postskripte. Zürich 1988.
(Bertelsmann Literaturlexikon)