Walter Matthias Diggelmann 1927–1979

In einer Zürcher Nacht des Jahres 1947 erzählte Walter Matthias Diggelmann einem Studenten sein Leben. Von seiner Geburt am 5. Juli 1927 in einem Heim für ledige Mütter berichtete er, von der Bündner Armeleutekindheit eines Verschupften, von der Flucht ins Dritte Reich, der Konfrontation mit Bomben, Gefängnis und Terror – und vom vergeblichen Versuch, nach 1945 in der Schweiz jemand zu werden. «Wie und was Du erzählst, beweist, dass du ein Dichter bist», folgerte der Student, und schon tags darauf ging Diggelmann hin und liess auf der Identitätskarte «Hilfsarbeiter» durch «Schriftsteller» ersetzen. Dies, obwohl er eigentlich nicht Schriftsteller, sondern «nur ein geachteter Bürger» seines Landes hatte werden wollen: «Aber ich baute darauf, dass meine Geschichte stark genug sein würde, dass ich damit auskommen würde, ein Leben lang.» Siebzehn unveröffentlichte Romane schrieb Diggelmann, oftmals vom Schriftstellerverein unterstützt, bis 1954. Dann gelang es ihm, inzwischen als Angestellter des Militärflugplatzes Dübendorf bürgerlich integriert, für den Flieger-Roman «Mit F 51 überfällig» einen Verlag zu finden. «Meine Person ist Bundesbeamter auf der DMP», meldete er Erwin Heimann stolz, «und schreibt mehr und besser denn je, ist glücklich verheiratet und kann auf jegliche Unterstützung verzichten.» Das ging aber nur so lange gut, bis sein Vertrauen in die schweizerische Gesellschaft erschüttert wurde und er 1959 als Texter bei der Public-Relations-Agentur Farner Einblick in die Manipulierbarkeit der öffentlichen Meinung bekam. «Das Verhör des Harry Wind», der Roman, der ihm den Durchbruch als Erzähler brachte, deckte 1962 die Manipulationen der Farner-Leute auf. Und auch «Die Hinterlassenschaft», das Buch, mit dem Diggelmann 1965 – noch vor A. A. Häslers «Das Boot ist voll» – die Schweizer Asylpolitik der Jahre 1933 bis 1945 an den Pranger stellte, basierte auf Material aus jener Texter-Tätigkeit. Das Buch war formal nicht unbedingt geglückt, und die Gleichsetzung des Antisemitismus der Kriegsjahre mit dem Antikommunismus von 1956 überzeugte nur wenige. Zudem beging Diggelmann den Fehler, in der DDR-Ausgabe Korrekturen im Sinne der dortigen Machthaber zuzulassen. Es war Kalter Krieg, und die Häme auf den Mann, der den Mythos der humanen Schweiz in Frage gestellt und sich dann selbst als Verräter entpuppt hatte, fiel mörderisch aus und führte letztlich zu dem, was Reni Mertens und Walter Marti 1973 in einem erschütternden Filmporträt evozierten: «Die Selbstzerstörung des Walter Matthias Diggelmann». Sodass es schon fast ein Wunder ist, dass aus der Hölle der Verzweiflung, der Einsamkeit und des Alkoholismus Ende der siebziger Jahre jener Geschichtenerzähler herausstieg, der – befreit vom ideologischen Ballast und von der Sucht, sich beweisen zu müssen – einfach nur noch erzählte, wundervoll stimmig, souverän und glaubwürdig erzählte. In «Aber den Kirschbaum, den gibt es», in «Filippinis Garten» und sogar noch in dem berührenden Tagebuch «Schatten», das der Krebskranke vor seinem Tod am 29. November 1979 Klara Obermüller diktierte – der Partnerin der letzten Jahre, die ihm sein Selbstbewusstsein zurückgegeben hatte. Sodass der geheime Wunsch, den er 1952 ganz beiläufig in einem Brief an SSV-Sekretär Franz Beidler formuliert hatte, am Ende doch noch in Erfüllung ging: «Ich möchte immer sprechen können, nicht widersprechen. Mir ist alles heilig, was lebt.»