Bernhard Diebold

Als das Theater der Kaiser, Toller und Brecht in den zwanziger Jahren seine grosse Zeit erlebte, war dies zugleich auch die Sternstunde der deutschen Theaterkritik. Und einer der bedeutendsten Kritiker neben Julius Bab, Alfred Polgar und Alfred Kerr war damals der Berliner Redaktor der Frankfurter Zeitung, Dr. Bernhard Diebold. Der gebürtige Zürcher galt nicht bloss als unbestrittener Fachmann für das expressionistische Drama, er sprach auch in Sachen Film ein gewichtiges Wort mit, und seine Haltung war politisch ebenso kompromisslos wie künstlerisch unbestechlich. 1928 nahm er den Fall Wagner vor den nationalistischen und rassistischen »Verehrern« in Schutz, und noch 1932 wagte er es, ein Buch der guten Werke herauszugeben, das mit allem Nachdruck Völkerversöhnung statt Krieg forderte. Keine Frage, dass Diebold, der dazu noch jüdischer Konfession war, nach 1933 Deutschland verlassen musste. So kam er, halb Heimkehrer, halb Emigrant, nach Zürich zurück, und wer den imposanten Mann, der auf demütigende Weise das Romanische Café mit dem Odéon hatte vertauschen müssen, nach 1935 näher kannte, der wusste, dass er in seinem besten Streben innerlich gebrochen war.
Man begegnete ihm mit Misstrauen, und er fand in der Schweiz nie mehr eine ihm wirklich angemessene Position - was natürlich selbstverschuldet war! 1935 nämlich hatte er sich an einer Luzerner Theatertagung so schonungslos offen zum einheimischen Schaffen geäussert, dass er als Theaterkritiker auf der Stelle unmöglich wurde. Weltoffen müsse das Schweizer Theater werden, Gegenwartsfragen solle es anpacken, neue Formen müssten die Tradition ablösen, hatte er erklärt. Dann war die Tagung fortgesetzt worden mit Simon Gfellers Hansjoggeli der Erbvetter...
So verlegte der Kritiker sich aufs Romanschreiben, schuf das erstaunliche Buch Das Reich ohne Mitte und damit nichts weniger als eine grandiose erzählerische Erklärung für das Heraufdämmern des Nazitums in Deutschland. Aber wen interessierte das 1938 in der Schweiz schon? Carl Seelig machte sich in der NZZ lustig über den Wälzer, und er konnte dies dem entmachteten Kollegen gegenüber gefahrlos tun. Noch einen Anlauf nahm Diebold: mit dem Roman Der letzte Grossvater wollte er für die Schweiz leisten, was Reich ohne Mitte für Deutschland beabsichtigt hatte: kritisch aufklären über die Situation der Zeit, die er als Aufbruch ins Chaos begriff. Aber das Buch wurde 1939 von der Wirklichkeit eingeholt und fand keine Beachtung. Nur wenige, darunter Albin Zollinger, Hilde Ribi und Erwin Jaeckle, hatten verstanden, welch prophetische Grösse hinter dem Manne stand, der nichts galt in seinem Vaterland. Als er am 9. August 1945 mit 59 Jahren starb, war er eben daran, sich als Theaterreferent der Tat mit der helvetischen Enge abzufinden.
(Literaturszene Schweiz)

Diebold, Bernhard Ludwig

*Zürich 1.6.1886, †ebd. 9.8.1945, Theaterkritiker und Schriftsteller. 1904-06 studierte D. in Zürich Jura, 1906-08 besuchte er die Schauspielschule am Burgtheater Wien. Dann wandte er sich in Berlin dem Studium der Theaterwiss. zu und promovierte 1912 in Bern. Bis 1915 wirkte er in München als Dramaturg und Spielleiter, seither als Theaterkritiker. Für die »Frankfurter Zeitung« verfasste er Theaterkritiken, die zu den besten der Zwischenkriegszeit gehören. Seine synthet. Kritik ging von den Gegebenheiten des Theaters aus und sah die Kritik des Theaters im Zusammenhang mit den Gegebenheiten der Epoche. Sein bedeutendstes Werk, »Anarchie im Drama« (1921), ist die noch heute gültige Dramaturgie des Expressionismus und eine grundlegende Kritik des Zeitgeistes. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten musste D. in die Schweiz zurückkehren, wo er wie ein Emigrant behandelt wurde und nie mehr eine seinem Rang entsprechende Betätigung fand. Sein grosser Epochenroman »Das Reich ohne Mitte« (1938) stiess ebenso auf Unverständnis wie das auf die Schweiz gemünzte Buch »Der letzte Grossvater« (1939) oder die feinsinnige, leicht surreale »Italienische Suite« von 1939. D. verfasste auch das Opernlibretto »Der unsterbl. Kranke«, frei nach Molière, mit Musik von H. Haug. Seit 1939 schrieb er die Schauspielkritiken für die Zürcher Zeitung »Die Tat«. - Werke: Das Buch der guten Werke (1914-18); Der Denkspieler Georg Kaiser (1924); Der Fall Wagner, eine Revision (1928); Habima. Hebr. Theater (1928). … Lit.: Seidl, W. D.: Die geistige Haltung der neueren dt. Theaterkritik, Diss., München 1951; Stadler, E.: B.L.D., in: Neue dt. Biographie, Bd. 3, Berlin 1957. (Schweizer Lexikon CH 91)

Diebold, Bernhard

* 6. 1. 1886 Zürich, † 9. 8. 1945 Zürich. - Dramaturg, Romancier. Nach abgebrochenem Jurastudium war D. bis 1908 Schauspielvolontär in Wien. Danach studierte er Philologie u. Theaterwissenschaft in Wien, Berlin u. Bern, wo er 1912 mit der Dissertation Das schauspielerische Rollenfach im deutschen Theaterbetrieb der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts promovierte. 1913-1917 arbeitete D. als Dramaturg in München, anschließend als Feuilletonredakteur der »Frankfurter Zeitung« mit Wohnsitz in Berlin. Mit zahllosen Kritiken u. Werken wie Anarchie im Drama (Ffm. 1921) oder Der Denkspieler Georg Kaiser (Ffm. 1924) machte sich D. einen Namen als Fachmann für die expressionistische Dramatik. Mit Der Fall Wagner. Eine Revision (Ffm. 1928) nahm er Richard Wagner beredt vor chauvinistischen u. nationalsozialistischen Vereinnahmungen in Schutz.
1935 zog sich D., der jüd. Konfession war, unfreiwillig nach Zürich zurück, wo er keine seinen Fähigkeiten angemessene Tätigkeit mehr fand u. zuletzt als Theaterreferent für die Tageszeitung »Die Tat« arbeitete. Im Schweizer Exil legte D. mit dem breitangelegten Roman-Panorama Das Reich ohne Mitte (Zürich 1938) in sehr persönl. Weise Rechenschaft über die Entwicklung der Weimarer Republik u. die Tendenzen ab, die seiner Meinung nach die Heraufkunft des Nationalsozialismus ermöglicht hatten. Kritisch aufklären über die Situation der Zeit, die er als Aufbruch ins Chaos begriff, wollte D. auch mit seinem zweiten Roman, dem auf die Schweiz gemünzten Werk Der letzte Großvater oder Gegen die Jugend gibt es kein Gesetz (Zürich 1939). Überzeugender sind D.s bisweilen ins Surrealistische weisende kürzere Erzählungen, die er u. d. T. Italienische Suite. Nachdenkliche Geschichten von sonderbaren Begegnungen (Zürich 1939) veröffentlichte. Der völlige Mißerfolg seiner Prosawerke u. das Scheitern seiner Bemühungen, dem provinziellen Schweizer Theater neue formale u. stoffl. Impulse zu geben, führten D. in seinen letzten Jahren mehr u. mehr in Resignation u. Verbitterung.

WEITERE WERKE: Das Rollenfach im dt. Theaterbetrieb des 18. Jh. Lpz. 1913. - Habima. Hebräisches Theater. Bln. 1928. - Der unsterbl. Kranke. Zürich 1940 (Opernlibretto nach Molière). - B. D. (Hg.): Das Buch der guten Werke (1914-18). Ffm. 1932 (Anth. mit Texten gegen den Krieg).
(Bertelsmann Literaturlexikon)