Die Autorin, die mir im dämmrigen Wintergarten des Badener Hotels Blume gegenübersitzt, erzählt von Bildern, die ihr Schreiben leiten. «Ich arbeite intuitiv. Die Bilder fangen beim Schreiben zu flimmern an, es ploppt in mir etwas auf, und dann fange ich an, es zu entwickeln.» Monica Cantieni hat zwischen dem Erstling «Hieronymus’ Kinder» von 1996 und dem Roman «Grünschnabel» fünfzehn Jahre verstreichen lassen. Gleich geblieben ist dabei nur die auffallende Dominanz von Farben, Bildern und Gerüchen. Sonst aber ist im neuen Buch alles anders geworden.
«Ich wollte mich nicht mehr der Sprache bedienen, an die ich mich gewöhnt hatte. Ich beschloss, sprachlich auszuwandern und einen ganz andern Duktus zu suchen.» Wobei Auswandern durchaus auch räumlich zu verstehen ist, entstand «Grünschnabel» doch zu guten Teilen in Tschechien und Rumänien. Bei Atelieraufenthalten, die ihr Distanz zu sich selbst, zu ihrem Schreiben und zu den heimischen Lebensweisen ermöglichten. Im Roman selbst aber ist das offenkundigste Novum die kindliche Perspektive, in der ein etwa achtjähriges Mädchen zum Sprechen gebracht wird.
«Vor der Kinderperspektive haben mich alle gewarnt: Das wird furchtbar», erinnert sich Monica Cantieni lachend, beharrt aber darauf, dass genau das ihr einen echten Neuanfang ermöglichte. «Das Ganze begann mit dem Gespräch des Kindes mit dem Vater über den Tod, und von diesem Moment an haben mich die Figuren nicht mehr losgelassen.»
Auf die unvermeidliche Frage, wie viel denn von ihr selbst in dem Kind enthalten ist, das der Grossvater «Grünschnabel» nennt, blickt Monica Cantieni einen Moment skeptisch hinter den dicken Brillengläsern hervor. «Ich gebe meinen eigenen Adoptionshintergrund nicht gerne preis», sagt sie dann. «Meine Erfahrungen entsprechen nicht eins zu eins diesem Buch, die Gefühlswelt aber sehr wohl, und wenn man mich nach Autobiografischem fragt, kann ich sagen: Mein Vater macht hervorragende Schnitzel, und mein Grossvater hat während des Krieges im Rheintal tatsächlich ein jüdisches Flüchtlingspaar versteckt.»
Die unselige Schweizer Flüchtlingspolitik der Kriegszeit ist in dem Buch nur noch wie ein fernes Gewitter spürbar. Erzählt wird aus den Jahren 1969/70, und da vor allem von den Diskussionen um die (am Ende abgelehnte) Schwarzenbach-Überfremdungsinitiative. Dass sich dabei Sätze zum Thema direkte Demokratie lesen, als seien sie auf die aktuelle Situation gemünzt, nimmt die Autorin in Kauf: «Ich würde gerne wieder mal als Bürgerin an die Urne gehen, um über eine Sachfrage, und nicht über ein Gefühl abzustimmen.»
Es wäre aber falsch, das Buch rein politisch zu lesen. Im Zentrum steht ein Adoptivkind, das über seinen Spracherwerb einen Lebenssinn und damit eine Daseinsberechtigung erstrebt. Eine Daseinsberechtigung, die im Übrigen nicht ein für allemal gegeben ist und auch für Monica Cantieni selbst in enger Beziehung zum Tod steht. «Ich habe schon früh ein sehr starkes Todesbewusstsein gehabt, ich wusste, dass uns die Zeit nur geschenkt ist und jederzeit zu Ende gehen kann.»
Im Roman ist das Thema Tod eine Domäne des Grossvaters, der dem Kind von seiner bevorstehenden Fahrt über den Jordan erzählt und das mit kleinen Papierschiffchen illustriert. Das letzte Wort hat aber nicht der Tod, sondern das Leben. «Wir reden übers Leben», sagt der Vater, als seine Frau ihn beim erwähnten Gespräch mit der Tochter über den Tod ertappt, und auch für Monica Cantieni ist das Todesbewusstsein letztlich Antrieb für ein besonders intensives Leben: als Schriftstellerin, aber auch als Fernsehmitarbeiterin und frisch ernannte Projektleiterin Multimedia der Abteilung Kultur von Schweizer Radio und Fernsehen.
Wie bringt man das alles zusammen? «Prioritär ist für mich immer, was ich gerade mache. Am Schreibtisch ist es das Schreiben, im Studio das Fernsehen. Obwohl das Schreiben dann bisweilen sehr anstrengend sein kann.»
Das Ausharren in den zwei unterschiedlichen Domänen hat sich aber zumindest für das Buch gelohnt, erreicht «Grünschnabel» doch bisweilen eine Leichtigkeit, die an das Einsammeln von Bildern mit einer ebenso sicher wie locker geführten Kamera denken lässt.

Monica Cantienis Roman «Grünschnabel» 
Monica Cantienis erster Roman führt die Serie bemerkenswerter Schweizer Frauenbücher (wie «Tauben fliegen auf» von Melinda Nadj Abonji) auf imponierende Weise fort. Cantienis «Grünschnabel» besticht mit seiner vitalen Figurenzeichnung wie mit seiner Sprache, die Form und Thema in einem ist.
365 Franken soll der Vater bezahlt haben, damit das kurzsichtige Mädchen aus dem Heim zu «künstlichen Eltern» ziehen darf. Vorläufig wenigstens, denn es ist noch gar nicht sicher, ob alles gut geht. Das Kind, das zum Jähzorn neigt, weiss nur zu gut: «Ich bin nicht das grosse Los!»
Vater und Grossvater helfen dem Kind, Tritt zu fassen, indem sie ihm Wörter liefern, die es auf Zettelchen schreibt und in Schachteln aufbewahrt. Wörter wie Wind oder Eisenbahn, aber auch Demokratie, Initiative, Ausländer. Die Geschichte spielt 1970, zur Zeit der Schwarzenbach-Initiative. Im Haus der Pflegeeltern leben Immigranten aus Spanien und Italien, und der Grossvater erinnert sich an die Kriegszeit, als er jüdischen Flüchtlingen über die Grenze half.
Mit seinem direkten, ungeschützten Wortgebrauch entlarvt das Kind das Beschönigende und Verlogene in der Sprache der Erwachsenen. Es deckt aber auch die heimliche Liaison auf, die den Gastarbeiter Toni mit der Mutter verbindet. Allein dadurch, dass es die Gangarten der beiden aneinanderreiht: spazieren, bummeln, schlendern, flanieren.
Monica Cantieni stellt die Sozialisierung eines Adoptivkindes wunderbar anschaulich aus der Optik des Mädchens selbst dar. Sie gesellt ihm glaubwürdige, mit Fehlern behaftete Betreuer bei, und sie stellt die Geschichte gekonnt in eine Zeit hinein, in der die Ausgrenzung des vorlauten Mädchens, das der Grossvater Grünschnabel nennt, mit jener Ausgrenzung konform geht, die Immigranten bedrohte – und noch immer bedroht.
Monica Cantieni: «Grünschnabel». Schöffling, 240 Seiten, Fr. 30.50.

(«Sonntagszeitung» 22.2.2011)