Tempo di marzo, («Märzenwetter»): das meint die launenhafte Stimmung im Hause des Geometers Maffea, der gerade ohne Auftrag ist und erst noch eine Gruppe von Amerikaheimkehrern zu beherbergen hat. Es könnte um 1883 sein, wir befinden uns im Mendrisiotto, und das Jahr, das da geschildert wird, ist besonders auch für Maffeas zwölfjährigen Sohn Nino «Märzenwetter» eine Zeit des Auf und Ab zwischen Winter und Frühling, Finsternis und Heiterkeit. Im elterlichen Hause, bei einem Erbonkel im Nachbardorf und zuletzt in den Mauern eines Internats lernt der Pubertierende die Welt mit neuen Augen sehen, wird er konfrontiert mit der ersten zarten Liebe, aber auch mit dem Tod und den Rätseln von Schuld und Sühne. «Schon mit zwölf Jahren», heisst es von ihm, «können wir reich genug an Seele sein, um davon der ganzen Welt zu schenken ... » Francesco Chiesa war vierundfünfzig, als «Märzenwetter» erschien, und die einfache Jugendgeschichte machte den Autor in Italien, wo seine klassizistischen Verse stets ohne viel Echo geblieben waren, mit einem Schlag zum berühmten, mit Ehrentiteln überhäuften Vertreter der tessinischen Italianità und der literarischen Heimkehr zu den Mächten der Erde. Nüchterner als andere und in künstlerischer Hinsicht fast immer unanfechtbar, baute Chiesa den Erfolg von 1925 weiter aus und produzierte Band um Band einer Heimatliteratur tessinischer Prägung, wie sie den Kulturbestrebungen des italienischen Faschismus – dem Chiesa auch politisch ziemlich nahe stand – ebenso entsprach wie dem zeitgemässen Trend in der deutschen Schweiz. Überhaupt war der kunstsachverständige Gymnasiallehrer aus Lugano, der sein Dichtertum bis ins 102. Lebensjahr hinein mit asketischer Strenge ausübte, so recht ein Tessiner Dichter nach Deutschschweizer Geschmack! Schon der Lesezirkel Hottingen hatte ihn für sich entdeckt, acht seiner Bücher wurden von Schweizer Verlegern auf deutsch nachgedruckt, und bis zum Ende des 20.Jahrhunderts diente er jedermann als dankbares Alibi, wenn die Gleichrangigkeit der vier Schweizer Sprachregionen am Tessiner Beispiel belegt werden musste. Für die andern Tessiner Autoren aber, für die weniger traditionell-konservativen zumal, war der überall dominante Chiesa nichts weniger als ein Unglück! Felice Filippini war sich 1971 jedenfalls mit Piero Blanconi darüber einig, dass Chiesa «das Durchbruchbedürfnis der Jungen überschattet» habe und dass «hundert Jahre Vorherrschaft einfach zuviel» seien. Tatsächlich konnte sich neben Chiesa bloss die Professorenliteratur der Zoppi und Calgari halten, während originellere Talente wie Filippini, Elena Bonzanigo, Adolfo Jenni oder Orlando Spreng lange Zeit chancenlos blieben. Aber auch nach Chiesa hatte und hat die Tessiner Literatur Mühe, von der überragenden Vaterfigur loszukommen und ihr eigenes Gesicht zu zeigen. Die Aufforderung, Chiesas wundervollen Roman zu lesen, müsste daher gekoppelt sein mit dem Hinweis auf die übrige Tessiner Literatur, an der manches erst noch zu entdecken ist! 2016 hat der Limmat-Verlag in der magistralen Übersetzung von Christoph Ferber unter dem Titel «Udire a notte buia» / «Hören in finsterer Nacht» eine Auswahl von Chiesas Sonetten in einer zweisprachigen Ausgabe herausgebracht. Und siehe da: auch wenn Chiesas gesellschaftliche, literaturpolitische und historische Rolle nach wie vor problematisch erscheint: seine klassischen Sonette haben der Zeit Stand gehalten und vermitteln ihre Grösse auch noch dem, der sie auf Deutsch zur Kenntnis nimmt!