«Rest verhungern lassen...» Daniil Charms (12. Mai 1905 - 2. Februar 1942)

Ende Januar 1928 führte die Leningrader Literatengruppe OBERIU, die alle Dinge «frei von der alten literarischen Vergoldung» darstellen wollte, ein Theaterstück auf. Es hiess «Jelisaweta Bam» und handelte von nichts anderem als von den unbegreiflichen Verhaftungen, denen in der UdSSR jeder in jedem Moment anheimfallen konnte. Kein Wunder, dass der Autor des Stücks, der 23jährige Anarchistensohn Daniil Iwanowitsch Juwatschew, der sich hinter dem französisch klingenden Pseudonym Charms verbarg, aber herumlief wie Sherlock Holmes, keine weitere Gelegenheit zur Provokation mehr erhielt. Kindergedichte durfte er nach einem Gefängnisaufenthalt in den Jahren 1931/32 noch publizieren, aber auch das nur, bis die Zensur sie 1937 als zeitkritisch entlarvte. Seine kurzen Prosatexte, für die er inzwischen zu den Grossen der absurden Literatur zählt, hätten ohnehin keine Chance gehabt, tönten sie doch «zersetzend» wie folgt: «Ich wirbelte Staub auf. Kinder liefen mir nach und rissen sich die Kleider vom Leib. Alte Männer und Frauen fielen von den Dächern. Ich pfiff, ich polterte, ich klapperte mit den Zähnen und stiess mit meiner Eisenstange auf. Die abgerissenen Kinder stürzten mir nach und brachen sich, weil sie nicht schnell genug waren, in der rasenden Eile die zarten Beine. Alte Männer und Frauen sprangen um mich herum. Ich stürmte vorwärts!» 1941 wurde Daniil Charms nach einem Leben in Angst und Entbehrung «wegen Verbreitung defätistischer Propaganda» verhaftet und ins Kresty-Gefängnis eingeliefert. Dort starb er am 2.Februar 1942 mit 37 Jahren an Unterernährung. «Frauen, Kinder, alte Leute abziehen lassen, Rest verhungern lassen», lautete der Einsatzbefehl der deutschen Wehrmacht, die damals Leningrad belagert hielt.