Maurice Chappaz: Dichter und Visionär

Dass der Dichter, sobald er als Prophet auftritt, in seinem Vaterland wenig gilt – dies musste Maurice Chappaz, der bekannteste Dichter des Wallis und einer der bedeutendsten der Schweiz überhaupt, in seinem Verhältnis zur engeren Heimat schmerzlich erfahren. Dabei war der 1916 in Martigny geborene Lyriker, Essayist und Erzähler, der zusammen mit seiner Frau S. Corinna Bille (1912-1979) jahrzehntelang das wohl bedeutendste literarische Zweigespann der Welschschweizer Literatur gebildet hat, allen Vorbehalten zum Trotz ein Walliser par excellence. Sein «Portrait des Valaisans en légende et en vérité» von 1965 ist, wenn auch aus kritischer Perspektive, eine Liebeserklärung an das Wallis, wie kein anderer Schweizer Kanton sie vorzuweisen hat. Polemisch, aber in Bildern von grosser dichterischer Kraft und Farbigkeit wird da jenes Land der südländischen Täler und steilen Felsen und Gletscher, das die Schweizer gewöhnlich nur aus touristischer Perspektive kennen, von innen heraus zum Faszinosum. 1968, im Band «Match Valais-Judée» näherte Chappaz sich dem Wallis noch einmal, verlagerte diesmal die Auseinandersetzung jedoch ins Gebiet der Parabel, in ein imaginäres Welttheater. Die katholische Kirche feiert in Sitten ihr 2000-Jahr-Jubiläum mit einem Wettkampf, bei dem Kardinal Schiner, die Heiligen Bernhard und Theodul, Georg Supersaxo, die Advokaten, Pfaffen und die armen Seelen des Wallis gegen die biblischen Propheten, Könige und Apostel kämpfen, bis das Ganze in eine barocke Fress- und Sauforgie übergeht. Gott will das Ganze mit einer neuen Sintflut beenden, gibt den Wallisern aber nochmals eine Chance: Wenn es gelingt, den Teufel einzufangen, werden dem Land nochmals 1000 Jahre gewährt. Was nach einer phantastischen Jagd dann auch wirklich gelingt, denn am Ende wandert St. Bernhard mit dem gefesselten Teufel klammheimlich dem Süden zu. Obwohl Chappaz dem Schriftstellerkollegen Gustave Roud gegenüber äusserte, sein Buch sei «ohne jedes Wohlwollen für die ganze soziale Kaste: Advokaten, Pfarrer, Bankiers, Hoteliers, Polizeioffiziere geschrieben», wurde der «Match Valais-Judée» ohne grossen Widerspruch aufgenommen, und auch wenn es etwa über die Touristen hiess, «es sind ihrer zu viele, sie erschlagen alles, was Pflanze und Tier heisst, ihre unausgesetzten Umarmungen schänden das Land», regte das noch kaum jemanden auf. Erst 1976, mit dem schmalen Pamphlet «Les Maquereaux des cimes blances» («Die Zuhälter des ewigen Schnees»), löste Chappaz jene geharnischte Reaktion aus, die das Verhältnis des Wallis zu seinem grössten Dichter jahrzehntelang trübte – bis in den 1990er Jahren eine jüngere Generation erkannte, wie visionär richtig Chappaz’ Attacke gegen die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Zubetonierung der Landschaft mit Hotels und kaum benützten Ferienhäusern, die verkehrsmässige Erschliessung auch der letzten einsamen Täler gewesen war. 1976 aber löste das Bändchen eine förmliche Hetzkampagne gegen Chappaz – und auch seine Frau Corinna Bille! – aus. Vor allem der zwei Rhone-Forellen in den Mund gelegte Satz «Um die Natur zu retten, muss der Mensch getötet werden» reizte Chappaz’ Gegner zur Weissglut. Das «Feuille d’Avis du Valais» beschimpfte ihn als «Krebsgeschwür» des Wallis und «Zuhälter der Literatur», ein Bauer versuchte ihn mit dem Traktor zu überfahren, ein Pfarrer verbrannte öffentlich das «Portrait des Valaisans» und das Ehepaar Chappaz-Bille wurde als Repräsentanten einer «Literatur der traurigen Schweine» gehandelt. Aber es gab auch Gegenstimmen. Neben den Schriftstellerinnen und Schriftstellern der ganzen Schweiz hielten auch die Studenten von Chappaz’ ehemaliger Schule, des Collège de Saint-Maurice, zu ihm, indem sie hoch über dem Kloster an einem Felsen die Inschrift «Vive Chappaz!» anbrachten. Als Maurice Chappaz, der mit seinen Gedichten, seinen Essays und seinen eigenwilligen tagebuchartigen Überlegungen zu Liebe, Leben und Tod ein imponierendes literarisches Werk hinterliess, am 15.Januar 2009 mit 92 Jahren starb, hatte das Wallis sich mit ihm längst wieder ausgesöhnt. Schon 1986 war dem Siebzigjährigen in Anwesenheit von drei Walliser Staatsräten im Supersaxo-Saal von Sion feierlich der «Prix de consécration de l’État du Valais» überreicht worden, und 2006 hatten Walliser Prominente bis hin zu Bundesrat Pascal Couchepin zu Ehren des Neunzigjährigen in der Médiathèque Valais in Martinique aus seinen Werken vorgelesen. Chappaz selbst aber ist in der Sache bis zuletzt konsequent geblieben und erteilte noch in seinem allerletzten Interview – mit Wilfried Meichtry für die «Berner Zeitung» im März 2008 – dem «unbegrenzten Fortschrittsglauben» eine Absage und stellte sich entschieden gegen ein Denken, «das sich euphemistisch Fortschritt nennt, in Tat und Wahrheit aber alles zu Geld machen will und nur die kurzfristige Gewinnmaximierung im Fokus hat.»

Im September 2012 erschien das Chappaz-Lesebuch «In Wahrheit erleben wir das Ende der Welt», das u.a. eine ausführliche bebilderte Biographie des Autors enthält.