Paul Celan 1920–1970

Gibt es etwas Erschütternderes als diese «Todesfuge»? Diesen sich zur dissonanten Coda «dein goldenes Haar Margarete /dein aschenes Haar Sulamith» steigernden Chorgesang von KZ-Häftlingen, die singend ihr «Grab in den Lüften» schaufeln, wo sie «nicht eng liegen», die in grossartig sich steigerndem tödlichem Rhythmus mittags und morgens und nachts im Angesicht eines SS-Mannes, der mit den Schlangen spielt und seine Hunde und seine Juden «herbeipfeift», «die schwarze Milch der Frühe» trinken und dabei mit Anspielungen an das erste Buch Mose, an Heines «Loreley», an Goethes «Faust», an Rilke und Trakl von einer Welt Zeugnis geben, die vor ihren Augen Wort für Wort in Schutt und Asche sinkt? Eine «Unendlichkeitssprechung von lauter Sterblichkeit und Umsonst» nannte er das Schreiben von Gedichten nach Auschwitz. Und er hat es dennoch weiter und immer wieder getan: der am 23. November 1920 in Czernowitz geborene Paul Anczel, der dem Holocaust nur knapp entkam und der deutschen Literatur unter dem Pseudonym Paul Celan ein grossartiges lyrisches Kapitel hinzufügte, während er in Bukarest und Wien als Journalist und ab 1948 in Paris als Lektor an der École normale supérieure arbeitete. Von Rilke und Trakl ausgehend, stand dem genialen Übersetzer die Tradition in ihrer ganzen Fülle vor Augen, und schuf er sich am Rande des Verstummens doch eine ganz neue, eigene Sprache. Eine, die Stern, Nacht, Blume, Blatt, Meer und Eis wie Übersetzungen eines verlorenen Originals verwendet und mit ihren Evokationen des Schreckens und der Trauer allen Experimenten zum Trotz unmittelbar berührt: «wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend», von der «Todesfuge» – 1948 in «Der Sand aus den Urnen» erstmals veröffentlicht – über «Mohn und Gedächtnis» (1952) bis zur «Niemandsrose» (1963) und zum posthumen «Schneepart», wo es heisst: «Sprengstoffe / lächeln dir zu, / die Delle Dasein / hilft einer Flocke / aus sich heraus.» Der Fatalismus seiner letzten Gedichte ging parallel mit dem Scheitern persönlicher Hoffnungen und Beziehungen. Der zu Ingeborg Bachmann zum Beispiel, die in ihrem Roman «Malina» gespiegelt ist, aber auch jener zu Claire Goll, die ihn mit Behauptungen wie der, die «Todesfuge» sei ein Plagiat des Gedichts «Chant des Invaincus» ihres verstorbenen Ehemanns Yvan Goll, zur Verzweiflung trieb und ihn die Angriffe als «nachträgliche Vollendung der ‹Endlösung› an mir selbst» (an Siegfried Lenz) empfinden liess. Seiner Zeit weit voraus, fand Celan bei den schreibenden Zeitgenossen bis hin zum virtuos-hermetischen Band «Sprachgitter» von 1959 nur wenig Verständnis. Peter Rühmkorf sah im letzteren Band «etwas besonders Schmalspuriges, strotzend oder besser starrend von Programmatik», und schon die «Todesfuge», die inzwischen als berühmtestes und meistvertontes Gedicht der klassischen Moderne gilt, wurde bei ihrer ersten Lesung vor der Gruppe 47 von den Kollegen als «pathetisch» und als «Singsang wie in einer Synagoge» verlacht. «Ich weiss nicht, in welchen meiner Einsamkeiten ich dermaleinst werde verrecken dürfen», schrieb Paul Celan 1968 Franz Wurm. Das letzte Kapitel im Leben des unvergleichlichen Lyrikers und Sprachschöpfers hiess: völlige Vereinsamung in sich selbst. Als der Fünfzigjährige Ende April 1970 in der Seine den Tod gesucht hatte, fand man auf dem Pult eine Hölderlin-Biografie, in welcher der Satz angestrichen war: «Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens.»