Carl Jacob Burckhardt 1891–1974

«Ich hatte einen Blick in den Abgrund getan», erinnerte sich Carl Jacob Burckhardt 1960 an seinen Besuch im NS-Konzentrationslager Esterwegen und seine dortige Begegnung mit dem Nobelpreisträger und Folteropfer Carl von Ossietzky. In dem Bericht jedoch, den der IKRK-Delegierte 1935 für den Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes über die Inspektionen in diversen Konzentrationslagern verfasst hatte, stand kein Wort von der unmenschlichen Behandlung der Gefangenen und las man, die Lager ständen «organisatorisch auf der Höhe neuzeitlicher Anforderungen» und in Dachau glaubten die Häftlinge «an die Gerechtigkeit des Lagerkommandanten». Zivilcourage war nicht die Stärke des am 10. September 1891 in Basel geborenen und am 3. März 1974 in Vinzel VD gestorbenen Basler Aristokraten, Zürcher und Genfer Universitätsdozenten, IKRK-Präsidenten und Gesandten. Der Autor einer dreibändigen Richelieu-Biografie zählte sich selbst zu den grossen Diplomaten seiner Zeit, erkaufte sich seine vermeintliche Unabhängigkeit aber dadurch, dass er sich auf dem rechten Auge blind stellte. So war er als Völkerbundskommissar für Danzig ab 1937 kaum viel mehr als ein Erfüllungsgehilfe für die Annexionsstrategie der Nazis, und als «Aussenminister» und schliesslich Präsident des IKRK konnte er sich, fast von Anfang an über Hitlers Vernichtungspläne orientiert, weder zu einem Appell an die Weltöffentlichkeit noch zu effizienten Massnahmen zur Rettung der bedrohten Juden aufraffen. Nach 1945 aber, als Tausende von SS-Leuten mit IKRK-Pässen nach Lateinamerika entkamen, rührte er keinen Finger. Der noble Herr und Schwiegersohn des welschen Schriftstellers und SalazarVerehrers Gonzague de Reynold war nämlich, wie er 1933 in einem Brief festhielt, der Ansicht, dass es «einen bestimmten Aspekt des Judentums» gebe, «den ein gesundes Volk bekämpfen» müsse. Wovon er offenbar auch nach Auschwitz nicht abrückte, schrieb er doch noch 1947, als Schweizer Botschafter in Paris, nach der Unterredung mit einer amerikanischen Journalistin in seinem Tagebuch vom «hasserfüllten, aggressiven, stumpfen Ghettogesicht eines jüdisch-amerikanischen Presseweibs». 1922, als er in Bologna erstmals Faschisten marschieren sah, sandte er dem Freund Hugo von Hoffmannsthal folgende hellsichtige erste Beurteilung nach Wien: «Das ist Gegenwart in der aufsteigenden Linie. Das Ganze scheint mir nicht auf wirklich grosse Zeiträume hin angelegt zu sein, aber wir werden manches erleben, was von hier aus seinen Ursprung nimmt. Jugend ist Trumpf, aber was wird das Morgen sein, diese jeweilige Jugend, die vorübergeht wie das blühende Gras? Shakespeare wusste es: ‹Reif sein ist alles.› Aber wie soll noch etwas reifen in der jetzigen Welt, ihrem Wirbelwind, ihrem Geschrei. Die Menge hat immer einen weiblichen Charakter, sie sucht nach dem starken Mann, nach dem Vater, der befiehlt.» So hat Burckhardt durchaus kommen sehen, was dann kam, aber er hatte weder den Mut, es unzweideutig zu verdammen, noch die Fähigkeit zu erkennen, dass es in seinem eigenen konservativen Weltbild allem äusseren Anschein zum Trotz Aspekte gab, die ihn mit den Nazis verwandt sein liessen. Wer abseits von der politischen Problematik dem glanzvollen Stilisten Burckhardt begegnen will, lese seine Begegnungen mit Rilke und Hofmannsthal oder die charmante Erzählung «Ein Vormittag beim Buchhändler».