Hans Boesch 1926–2003

Rudolf Jakob Humm konnte nicht wissen, wie exakt er das Schreiben seines jüngeren Kollegen Hans Boesch auf den Punkt brachte, als er 1968 in der «Weltwoche» zu dessen Roman «Die Fliegenfalle» bemerkte: «Keinen Spaziergang können seine Leute unternehmen, ohne zu torkeln, auszurutschen, Halden hinabzurollen, in Sümpfe zu geraten, einander atemlos zu suchen.» 35 Jahre später, als Boesch wenige Wochen vor seinem Tod am 21. Juni 2003 seinen letzten Roman, «Schweben», vorlegte, bestand im Rückblick kein Zweifel mehr, dass sein grosses Thema das Unterwegssein, das Wandern, das Fliehen, das Abschiednehmen und das Zurückkommen gewesen war. Für die drei Romane «Das Gerüst», «Die Fliegenfalle» und «Der Kiosk», mit denen der am 13. März 1926 in FrümsenSennwald SG geborene ETH-Städteplaner nach seinem poetischen Debüt mit dem Kindheitsroman «Der junge Os» (1957) zwischen 1960 und 1978 den Gegensatz zwischen Natur und Technik, Realität und Fantasie auslotete, gilt das allerdings erst eingeschränkt. Insbesondere «Der Kiosk» aber, dieses glühendsinnliche Zeitbild der sechziger Jahre aus der Sicht eines Behinderten, brachte etwas in die Literatur hinein, was nur einem Ingenieur möglich war: den Entwurf einer utopischen Unterwasserstadt, der sich im Nachhinein als geniale Vorwegnahme der virtuellen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts entpuppt. Boesch hat die drei Romane selbst seine «Ingenieurs-Trilogie» genannt. Die vier weiteren, von 1988 bis 2003 publizierten Romane aber lassen sich nicht so einfach auf einen Nenner bringen. Sie öffnen sich der Welt und kommen immer wieder auf das Elementare zurück: Mann und Frau, Mensch und Tier, Leben und Tod, Landschaft und Jahreszeit, Unterwegssein und Bewegung. Wobei die Bewegung in der erinnerten Vergangenheit anfängt und sich in der Bündner Berglandschaft, in der allein dem Asthmatiker Boesch das Schreiben zuletzt noch möglich war, zu einem grandiosen Reigen steigert. Erzählt «Der Sog» (1988) auf subtil-poetische Weise von Simon Mettlers Kindheit im Rheintal, so erlebt der gleiche Simon, der sich zum Geometer ausbilden lässt, in «Der Bann» (1996) die 68er Unruhen in Zürich und eine am Ende scheiternde Liebe zur feinsinnig-selbstbewussten Aurora. Im dritten Roman, «Der Kreis» (1998), findet Aurora wieder zu Simon zurück und feiert mit ihm, Linda und Peider während eines Schneesturms in Madlainas Gasthaus in La Punt ein Jahr zu früh die Jahrtausendwende. Madlaina ist es, die in «Der Kreis» in jene ekstatische Bewegung gerät, die Humm schon 1968 beschrieben hat. Als achtzehnjähriges Mädchen rennt sie auf der Flucht vor einem ungeliebten Freier nachts barfuss durch Graubünden und trifft in den Formen und Farben der Gebirgslandschaft mit ihren klangvollen rätoromanischen Namen auf eine Gegenwelt, die es zu durchmessen gilt, um sich selbst zu finden. «Schweben», Boeschs letzter Roman, nimmt die Bewegung wieder auf. Peiders Freundin Linda, eine junge Ärztin schwarzer Hautfarbe, ist es diesmal, die das Engadin laufend durchquert. Simon Mettler sieht ihr von weit oben zu und setzt ihre Bewegung, die ihm wie Schweben vorkommt, mit dem Abschiednehmen am Ende eines langen Lebens und mit zwei am Himmel kreisenden schwarzen Vögeln in Beziehung. Vögeln wie jener, von dem er früher einmal gesagt hat: «Das kann er, sich fallen lassen und doch nicht fallen, weggleiten und gleichzeitig sich ausruhen im Gleiten.»