Carl Albrecht Bernoulli

»Die Kirche ist ein Kadaver, aber die Religion ist nicht tot!« Dies sagt die Titelfigur in Ernst Kilchners Roman Lucas Heland von 1897. Der sozial engagierte Heland ist, obwohl durch die Diskrepanz zwischen Wissenschaft und Amtskirche zutiefst verunsichert, Pfarrer in einer Bündner Berggemeinde. Von der Synode zur Rede gestellt, gibt er das Amt jedoch auf, um die Theologie künftig als Wissenschaft ernst nehmen zu können. - Die Umstände lassen sofort an Leonhard Ragaz denken, und tatsächlich schrieb der Begründer des religiösen Sozialismus nach beendigter Lektüre 1898 an einen Freund: »Es ist ganz und gar mein Kampf, der da geschildert wird ... «
Lucas Heland ist weniger als Kunstwerk denn als eindringliche Dokumentation eines Kampfes von Bedeutung, der um 1900 zwischen kritischer Theologie und protestantischer Kirche ausgefochten wurde. Seine Authentizität erhielt das Buch durch Stellung und Engagement des Verfassers, denn hinter dem Pseudonym Ernst Kilchner verbarg sich niemand anders als der angehende Basler Theologieprofessor Carl Albrecht Bernoulli, der im Erscheinungsjahr seines Roman-Erstlings auch mit einem gewichtigen kritisch-theologischen Werk in die Diskussion eingriff. Bis auf dessen souveräne Gelassenheit, der er sein kämpferisches Temperament nicht unterstellen mochte, hatte Bernoulli seine bestimmende Prägung durch den grossen theologischen Skeptiker Franz Overbeck (1837-1905) empfangen. Seine bedeutendste publizistische Leistung ist denn auch das zweibändige Werk Overbeck und Nietzsche von 1908, das den Autor in jahrelange Prozesse verwickelte, weil er die deutschnationale Nietzsche-Propagation des Weimarer Nietzsche-Instituts in Zweifel gezogen hatte. Auch als Schriftsteller - er publizierte 20 Dramen und 7 Romane - war Bernoulli kein Anpasser. Sein Tell-Drama Der Meisterschütze etwa zeichnete den Nationalhelden 1915 als anarchistische, dem Wahnsinn verfallende Künstlernatur, während im Aktivdienstroman Der sterbende Rausch schon 1917 der spätere Jura-Konflikt vorausgeahnt ist. Mit dem Roman Bürgerziel schrieb der Basler überdies 1922 eine Berner Chronik, die einem die Haare zu Berge stehen lässt. Nicht weniger ketzerisch benahm sich Bernoulli als Journalist. So erhob er 1923, als alles ihm huldigte unverfroren Protest gegen den autoritären Literaturpapst Otto von Greyerz, und 1927 kämpfte er, allerdings auf verlorenem Posten, gegen das protzige Liestaler Spitteler-Monument.
Als er 1937 starb und die Nachrufe verlegen von »eigenwillig« oder »streitbar« sprachen, ahnte niemand, dass Bernoulli zumindest im gewichtigsten seiner Streitfälle glanzvoll recht behalten würde. Nach 1945 stellte sich nämlich heraus, dass die fatale Weimarer Nietzsche-Strategie tatsächlich auf raffinierten Fälschungen beruhte! Aber wer erinnerte sich damals noch an C. A. Bernoulli, dessen kompromisslose Wahrheitsliebe von seinen Landsleuten als Unbelehrbarkeit und Streitlust abgetan worden war?
Eva Bernoulli hat 1987 unter dem Titel Erinnerungen an meinen Vater im GS-Verlag, Basel, eine Bernoulli-Textauswahl vorgelegt.(Literaturszene Schweiz)