Lukas Bärfuss * 1971

Einen «Murmeltierblick», einen «Mini-Niesen» von Nase und ein «in latentem Widerspruch vorgeschobenes Kinn» dichtete die «NZZ am Sonntag» Lukas Bärfuss an. Und reagierte damit auf den Eindruck von Entschlossenheit und Eigensinn, der von dem in Zürich lebenden Berner Oberländer ausgeht. Einem Autor, der es ohne Gymnasium oder akademisches Studium zum meistgespielten Schweizer Dramatiker seiner Generation und, als Folge des ihm zuerkannten Berliner Literaturpreises 2013, gar zum Gastprofessor an der Freien Universität brachte. 1971 in Thun geboren, wollte Bärfuss ursprünglich Käser werden, arbeitete nach der Volksschule jedoch als Tabakbauer und Gärtner, ehe er als Leiter der Comic-Abteilung einer Berner Buchhandlung ohne Kursbesuch das Buchhändlerdiplom machte. Dann aber beschloss er über Nacht, Schriftsteller zu werden, besuchte einen Schreibmaschinenkurs bei der Migros-Klubschule und schrieb als Stipendiat der Lydia-EymannStiftung in Langenthal zwei Romane. Der Durchbruch gelang ihm jedoch nicht als Erzähler, sondern als Dramatiker. Zunächst für Samuel Schwarz und die Gruppe «400asa», dann für die verschiedensten Theater schrieb Bärfuss Bühnenstücke, die sich nicht nur durch eine bühnenwirksame Sprache, sondern auch durch Inhalte auszeichnen, mit denen das Theater zum Diskussionsforum wird. «Meienbergs Tod» dekonstruierte 2001 den 68er-Mythos Meienberg. 2002 rief das Expo-Stück «August 02» schweizweit Proteste hervor: Zwei Talkmaster wollen am Beispiel von fünf in Bonobo-Affen verwandelten Schweizern herausfinden, worin das Schweizersein eigentlich besteht. Einer der Affen ist ein «Sans-Papiers», wer ihn enttarnt, darf ihn an die Grenze stellen ... Über die Schweiz hinaus erfolgreich wurde Bärfuss erst 2003 mit «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern», einem um die Figur der infantilen Dora kreisenden Stück über die repressiven Folgen der befreiten Sexualität. 2005, in «Alices Reise in die Schweiz», thematisierte er die Sterbehilfe und deren Praktizierung durch einen Fanatiker als hochbrisantes Problem. «Der Bus» befasste sich im gleichen Jahr am Beispiel einer jungen Wallfahrerin und einem Bus voll schräger Existenzen mit der religiösen Sinnsuche. «Die Probe» thematisierte 2007 die Rolle der Vaterschaft in Zeiten des Gentests, während «Parzival» 2010 einen jungen Mann auf abenteuerliche Weise nach den Regeln suchen liess, nach welchen die Gesellschaft funktioniert. In «Zwanzigtausend Seiten» schliesslich brachte Bärfuss 2012 einen Mann auf die Bühne, der den ganzen Bergier-Bericht über das unrühmliche Verhalten der Schweiz zur Nazi -zeit im Kopf gespeichert hat und, zum Clown geworden, erkennt, dass sich kein Mensch mehr dafür interessiert. Einem historischen Phänomen geht auch «Hundert Tage» (2008), Bärfuss’ bisher einziger Roman, nach. Der Schweizer Entwicklungshelfer David Hohl erlebt 1994 den Völkermord in Ruanda, interessiert sich aber, obwohl er eine Mitschuld der Schweiz daran erkennt, nicht für das entsetzliche Gemetzel rings um ihn her, sondern einzig für die sexuellen Vorzüge einer schwarzen Geliebten, die als Anführerin einer Mörderbande in den Genozid involviert ist. Brutaler und illusionsloser als in diesem Roman eines Autors, der sprachmächtig und gekonnt die lange Tradition der «Littérature engagée» fortführt, ist das Verhältnis zwischen Europa und der Dritten Welt noch nie als eigensüchtig, zynisch und mitleidlos entlarvt worden.