Sie schrieb gegen Stalins Terror an : Anna Achmatova (1889-1966)
«Stille fliesst der stille Don. / Gelb tritt in das Haus der Mond. / Schaut in alle Winkel keck: / Sieht: Ein Schatten sitzt im Eck. / Eine Kranke muss das sein,/ eine kranke Frau, allein. / Tot der Mann, im Grabe schon, / im Gefängnis sitzt der Sohn. / Diese kranke Frau bin ich. / Betet, schreit zu Gott für mich!» Erschütternder als im «Requiem» von Anna Achmatova ist das Leiden Russlands unter Stalin, ja vielleicht überhaupt das Leiden von Menschen unter einer Diktatur, nirgendwo zu Dichtung geworden.
Die am 23.Juni 1889 geborene Anna Andrejevna Gorenko hatte bis 1922, bis man ihr wegen Dekadenz und Revolutionsfeindlichkeit das Publizieren verbot, bereits sechs vielbeachtete Lyrikbände veröffentlicht, als sie 1935, aufgefordert durch eine Unbekannte, mit der zusammen sie vor dem Gefängnis auf Nachrichten von ihrem Sohn wartete, einen Gedichtzyklus über das Schicksal der Millionen Opfer von Stalins Terror zu schreiben begann: ein zehnstrophiges Requiem, das 1961 vollendet war, aber in Russland erst 1987, 21 Jahre nach dem Tod der Dichterin am 5.März 1966, erscheinen konnte. So riskant war das Projekt noch 1940 gewesen, dass die Autorin keine Handschrift aufbewahrte, sondern die Verse von einer Freundin auswendig lernen liess. Mit Grund, wie sich 1946 zeigte, als sie nach drei patriotischen Büchern in den Kriegsjahren wieder Publikationsverbot erhielt und ZK-Mitglied Schtanow sie ungestraft als «eine Hure und eine Nonne, bei der Pornographie mit Gebet verflochten ist» beschimpfen durfte. Was immerhin die Kenntnis von Anna Achmatovas Werk verriet, hat sie doch tatsächlich in Liebesgedichten wie jenen von «Abend» (1912) das Erotische wie keine andere Dichterin dieser Zeit zum Leuchten gebracht, und nicht nur im «Requiem», sondern auch im grossartigen, von 1940 bis 1963 entstandenen Zyklus «Poem ohne Held» ist es die zu neuer Intensität erwachte russische Frömmigkeit, die ihre Abrechnung mit dem Terror ins Allgemeingültige erhebt.