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«...denn dem Auge glaubt das Gehirn. 100 Jahre Pestalozzi-Kalender»


Eine Ausstellung, konzipiert und im grafischen Design von Urs Bernet eingerichtet von Charles Linsmayer.

Vom 6.Marz 2008 bis zum 30.August 2008 im Ausstellungsraum der Universitätsbibliothek Bern, Münstergasse 63, beim Casino.

Eintritt frei.

«... denn dem Auge glaubt das Gehirn», argumentierte Bruno Kaiser, der den Pestalozzi-Kalender erfolgreich lanciert hatte, 1920. «Das geschriebene Wort erschwert die Leitung, da muss eines nachhelfen: die Bilder.» Tatsächlich begeisterte der Kalender von Anfang an mit seiner Bebilderung. Mit Kunstwerken vor allem, die das Auge des jungen Menschen ästhetisch und moralisch schulen sollten. «Wie das Wort klar und deutlich, müssen die Bilder künstlerisch sein. Im Grunde ist beides dasselbe.».






Während Jahrzehnten fester Bestandteil der Schweizer Schülerwelt: der Pestalozzi-Kalender
Den Namen Pestalozzi-Kalender erfanden die Schüler. Das Büchlein, das im Herbst 1907 auf Zürcher Schulhöfen verteilt wurde, hiess «Kaisers's neuer Schweizer Schülerkalender 1908», bekam von den Schülern des Titelbilds wegen aber schon bald den Namen Pestalozzi-Kalender. Ab 1910 gab es eine französische, ab 1918 eine italienische Ausgabe, daneben erschienen kürzere und längere Zeit auch Ausgaben für Argentinien, Holland, Dänemark, Deutschland, Frankreich und Belgien. Schon 1917 wurden 100 000 Kalender gedruckt, erschienen besondere Knaben- und Mädchen-Ausgaben und wurde der neue Jahrgang jeweils nicht zuletzt von den Unzähligen, die am Zeichnungswettbewerb mitgemacht hatten und auf einen der Preise hofften, mit Spannung erwartet. Neue Moden und Trends, vielleicht auch ein allzu langes Beharren auf den immer gleichen Formen und Inhalten, führte nach 1970 dazu, dass auch in der Schweiz nur noch der deutschsprachige Kalender übrig blieb. Als Agenda im Din A5-Format nennt er sich Plozz, wird von einem gewissen Kuku betreut, führt aber nicht nur die Zweiteilung in Agenda und Wissens- und Unterhaltungsteil («Schatzkästlein») weiter, sondern gehorcht auch in vielem anderem noch immer den Normen, die Bruno Kaiser 1908 gesetzt hat.

Was ist an der Ausstellung zu sehen?
Am Anfang stand ein Zufallsfund. Im Oktober 1990 stiess Charles Linsmayer an der Zürcher Klosbachstrasse auf eine Mulde voll Pestalozzi-Kalender und rettete, was er tragen konnte, in seine nahegelegene Wohnung. Die Pro Juventute, seit 1944 Kalender-Verlag, hatte ihr Archiv entsorgt, und was Linsmayer damals retten konnte, bildet nun die Grundlage der Ausstellung «,...denn dem Auge glaubt das Gehirn‘. 100 Jahre Pestalozzi-Kalender». Sie will die ganze Fülle der produzierten Kalender in allen Sprachen vorführen und allein schon mit der Umschlaggestaltung ein graphisch-gestalterisches Faszinosum präsentieren. Die Kalender werden aber auch aufgeschlagen und in der Vielfalt ihrer Inhalte gezeigt. Was den jungen Menschen im Verlauf der Jahre zu den Themen Politik, Geschichte, Sport, Natur, fremde Welten und technischer Fortschritt vor Augen geführt wurde, steht dabei den Aktivitäten gegenüber, zu denen sie selbst angeregt wurden und die in Bastelarbeiten und Zeichnungen ihren Niederschlag fanden. Die Ausstellung will jedoch auch ein Hommage an jene sein, die den Kalender prägten: Bruno Kaiser vor allem, aber auch Künstler wie Wilhelm Balmer, Ernst Linck, Paul Boesch und ihre jüngeren Nachfahren, die die Schüler-Agenda 100 Jahre lang so gestalteten und illustrierten, dass die Gehirne der jungen Leserinnen und Leser tatsächlich allen Grund hatten, ihren Augen zu glauben.

Veranstaltungen zur Ausstellung:
15.April 2008: 12 Uhr, Universitätsbibliothek Bern, Aula. Buch am Mittag: «1908 war der iPod aus Papier. Reminiszenzen an den 100jährigen Pestalozzikalender. 28.Mai 2008, 18.30 Aula der Zentralbibliothek Bern, Münstergasse 61 Podiumsdiskussion: «Der Pestalozzi-Kalender: gestern, heute, morgen.» Es nehmen teil: Christine Loetscher (Moderation), Martin von Aesch (Redaktor Pestalozzi-Kalender), Lukas Hartmann (Schriftsteller), Natalie Marrer (Schriftstellerin), Dr. Christine Holliger (Direktorin Schweiz. Institut für Jugendmedien, Zürich), Charles Linsmayer (Kurator der Ausstellung)





Responsable

Charles Linsmayer, Englischviertelstrasse 32, 8032 Zurich
044/251 33 36 - charles@linsmayer.ch


Pressestimmen

© Tages-Anzeiger; 19.08.2008; Seite 43
Kultur
Der Freund des lernbegierigen Schülers wird hundert
Seit hundert Jahren gibt es den Pestalozzi-Kalender für Kinder - ein Phänomen, an dem sich die Entwicklung der Erziehungsideale in der Schweiz ablesen lässt.

Von Christine Lötscher

«Anschauung ist das absolute Fundament aller Erkenntnis», schrieb Pestalozzi zuhanden aller Pädagogen - und inspirierte damit den Berner Kaufmann Bruno Kaiser dazu, eine Schüleragenda zu entwickeln, in der die grossen Männer der Geschichte vorgestellt wurden - zur Nachahmung empfohlen. Doch nicht nur belehren sollte der Pestalozzi-Kalender; als er 1908 zum ersten Mal erschien, erwähnte Bruno Kaiser auch die pädagogische Bedeutung der «Liebhabereien und Spiele, di e . . . dazu beitragen, dem Vaterlande eine gesunde, tüchtige und fröhliche Generation zu erziehen». In den kleinen Büchlein brachte Kaiser in den folgenden Jahrzehnten neben Abbildungen von Kunstwerken, mit denen das Auge der Jugend sensibilisiert werden sollte, auch Rätsel und Spiele unter; ab 1914 gab es eine Ausgabe für Mädchen und eine für Jungen, damit ihnen geschlechtsspezifisches Wissen vermittelt werden konnte. Wie man zum Beispiel ein Windelhöschen näht, lässt sich im Pestalozzi-Kalender von 1919 lernen. Damals hatte die Schüleragenda bereits eine Auflage von über 100 000 erreicht, und Länder wie Holland, Dänemark, Deutschland und Frankreich kopierten die Idee. Bis in die 1970er-Jahre war der Pestalozzi-Kalender ein obligates Weihnachtsgeschenk für Schweizer Kinder; der Schriftsteller Lukas Hartmann erinnert sich, dass er jeweils «den Kalender und einen Fünfliber» geschenkt bekam. «Wenn man die Pestalozzi-Kalender aus hundert Jahren nebeneinander betrachtet, ergibt das einen schönen Spiegel der Erziehungsideale und ihrer Entwicklung», sagt der Literaturwissenschaftler Charles Linsmayer, der die Geschichte des Kalenders in einer Ausstellung in der Universitätsbibliothek Bern anschaulich dokumentiert hat. Gerade weil es sich um Gebrauchsliteratur handelt, die nicht für die Ewigkeit gemacht ist, zeigen sich die unreflektierten Vorstellungen über Kindheit und Erziehung umso deutlicher. Linsmayer hält den Pestalozzi-Kalender für ein einzigartiges Phänomen, auch weil die Rolle und die Wahrnehmung der Kinder sich im 20. Jahrhundert völlig gewandelt hat; vom Objekt der Erziehung zum Subjekt mit eigenen Bedürfnissen: «Ich kenne kein vergleichbares Buch, das sich über eine so lange Zeit ständig den gesellschaftlichen Veränderungen anpassen musste.» Und doch ist es nur einem Zufall zu verdanken, dass sich die Geschichte des Pestalozzi-Kalenders überhaupt noch erzählen lässt: als Linsmayer seinen Sohn vor bald zwanzig Jahren in die Schule begleitete, kam er an einer Mulde voller Bücher vorbei - lauter Pestalozzi-Kalender, von der Pro Juventute beim Räumen ihres Archivs entsorgt. Durch den strömenden Regen rettete Linsmayer, was er konnte.

Statt Philosophen Sepp Blatter

Heute gibt es den Pestalozzi-Kalender immer noch. Auch wenn er, dank der witzigen und dynamischen Illustrationen von Anna Luchs, äusserlich kaum wiederzuerkennen ist, folgt er im Grunde doch den gleichen Prinzipien wie vor hundert Jahren: das handliche Buch bietet eine Kombination von Wissensvermittlung und Anregungen zum Spiel und auch die erwachsenen Vorbilder sind nicht ganz verschwunden - nur sind es nicht mehr Geistesgrössen wie Kant oder Newton, sondern Prominente wie Doris Leuthard und Joseph Blatter, die Briefe an die Redaktion schreiben. Die grössten Unterschiede liegen in der Art, wie die Kinder angesprochen werden, im Ton und im Stil. Es schauen nicht mehr die bedeutenden Erwachsenen auf die Kinder hinunter, sondern die Kinder selbst kommen zu Wort - wenigstens indirekt. Seit der ehemalige Lehrer Martin von Aesch, der sich mit den Schlieremer Chind einen Namen gemacht hat, den Pestalozzi-Kalender herausgibt, ist ein fiktives Redaktionsteam von Kindern für die Texte zuständig. Der Chef ist Kuku Holzer, bekannt als Protagonist von Martin von Aeschs erfolgreicher Kinderkrimireihe «Torgasse 12». So verbindet von Aesch die ursprüngliche Absicht des Unterhaltens und Belehrens mit dem zeitgemässen Ideal der Leseförderung durch Leselust - und ist im Begriff, ein weiteres Kapitel in der Geschichte des Pestalozzi-Kalenders zu schreiben.

Der Pestalozzi-Kalender 2009 erscheint pünktlich zum neuen Schuljahr im Atlantis-Verlag (ab 9 Jahren; ca. 20 Fr.); die Ausstellung in der Universitätsbibliothek Bern ist noch bis zum 30. August 2008 zu sehen.


Neue Zürcher Zeitung; 27.05.2008; Ausgabe-Nr. 121; Seite 45
Feuilleton
Erweiterte Schülerhorizonte
Eine Berner Ausstellung feiert 100 Jahre Pestalozzi-Kalender
Dem Dreizehnjährigen wurden Glück und Pech zugleich beschert: Für sein Bild «Die Schweizer Schlacht» hatte er im Zeichnungswettbewerb des Pestalozzi-Kalenders eine Zenith-Uhr gewonnen, diese aber in der Aufregung auf den Steinboden fallen lassen, wo sie zerbrach. «Irreparabel», beschied man dem unglücklichen Buben, der Friedrich Dürrenmatt hiess. Solche und andere Geschichten vermittelt die Ausstellung «. . . denn dem Auge glaubt das Gehirn», die hundert Jahrgänge des Pestalozzi-Kalenders präsentiert. 1907/08 hat der Berner Kaufmann Bruno Kaiser ein Produkt lanciert, das sich als Verkaufsschlager entpuppte: «Kaiser's neuer Schweizer Schülerkalender». Er verteilte das Büchlein, das wegen des Titelbildes mit dem Schweizer Pädagogenidol bald Pestalozzi-Kalender genannt wurde, zuerst auf Zürcher Schulhöfen. Bereits ab 1910 gab es eine französische Ausgabe, später eine italienische, und rasch schlossen sich solche für Argentinien, die Niederlande, Dänemark, Deutschland, Frankreich und Belgien an. Der Walter-Verlag in Olten schickte 1922 einen katholischen Konkurrenten auf den Markt: «Mein Freund», der sich bis 1988 behauptete. - Die hundert Jahrgänge stellen ein eindrückliches Kapitel schweizerischer Erziehungsbemühungen dar. Schülerinnen und Schüler sollten in der Freizeit auf belehrende und gleichzeitig unterhaltsame Art angeregt werden, wobei Kaiser bewusst das Bild als Bildungsfaktor einsetzte. Nur schon die Wettbewerbe wurden jedes Jahr mit Spannung erwartet; dazu erhielt man Einblicke in Staatskunde und Geschichte, Gesundheit und Sport, Natur, Umwelt und Kunst - und sogar in das magische Reich des Zauberns. Grosse Sorgfalt galt der Gestaltung und dem Druck der Kalender; so wurden etwa die Vorlagen für die Monatsbilder und Tagessymbole in Holz geschnitzt. Wer nun durch die anschaulich aufbereitete Ausstellung wandert, erlebt noch einmal frühe Lesefreuden.

Die beste Geschichte aber kommt zuletzt: Als Kurator steht hinter der Schau Charles Linsmayer, der vor achtzehn Jahren an der Zürcher Klosbachstrasse auf eine Abfallmulde voller Pestalozzi-Kalender stiess, diese rettete und in seine Wohnung trug, wo das Entsorgungsgut auf seine Neubelebung wartete.

Beatrice Eichmann-Leutenegger
Universitätsbibliothek Bern, Münstergasse 61, bis 30. August (Mo bis Fr 8 bis 19 Uhr, Sa 8 bis 12 Uhr).

Aargauer Zeitung / MLZ; 07.03.2008; Seite 33
Tausenden Wissen vermittelt
marco guetg
Universitätsbibliothek Bern: Die Ausstellung zum 100-Jahr-Jubiläum des beliebten Pestalozzikalenders gibt auch Einblick auf ein Stück Schweizer Kulturgeschichte. Ob er seiner Sache doch nicht so sicher war? Die Nummer 1 von «Kaisers neuem Schweizer Schülerkalender 1908» jedenfalls liess der Juniorchef des Berner Warenhauses Kaiser im Sommer 1907 vorsichtshalber nicht in Bern, sondern auf Zürcher Pausenplätzen verteilen. Zu unsicher war Bruno Kaiser (1877 › 1941), was er mit einer Gruppe Schülern entwickelt hatte. Kaisers Bedenken waren unbegründet. Denn gleich setzte das bald als Pestalozzikalender gehandelte Büchlein mit seiner staatspolitisch affirmativen und konfessionell neutralen Grundhaltung zu einem Sturmlauf durch die Schulstuben an. Nicht nur in der Deutschschweiz, sondern über die Sprach- und Landesgrenzen hinaus. 1918 druckte Kaiser allein die Schweizer Ausgaben in einer Auflage von über 100 000 Stück. Auf diesem Level halten konnte sie sich jedoch nicht. Heute beträgt sie zirka 20 000 Exemplare. Einblick in die wechselvolle Geschichte dieses Schweizer Kuriosums gibt die Ausstellung «‹. . . denn dem Auge glaubt das Gehirn.› 100 Jahre Pestalozzi Kalender», von Charles Linsmayer in der Berner Universitätsbibliothek mit grosser Kenntnis eingerichtet. Natürlich liegt auch Kaisers erstes Bändchen von 1908 vor. Auf dem Frontspitz des 120 Seiten schmalen Büchleins schauten den Schülern in corpore die sieben Bundesräte entgegen; es folgten ein Kalendarium mit Berühmtheiten (Linsmayer: «Ein profaner Heiligenkalender»), 23 Seiten Notizpapier, zwei abwaschbare Schiefertafeln, Rubriken für Stundenplan, Taschengeld; Seiten mit Statistiken, Kunstgalerie, unregelmässigen Verben und vieles mehr. Und zuhinterst lagen Postkarten, mit denen Schüler an Wettbewerben teilnehmen konnten. Die Philosophie, die hinter Kaisers Konzept steckte, hat er im Vorwort verraten: «Wir wollen der Schweizer Jugend ein Buch verschaffen, welches sie in ihren Schularbeiten unterstützt, ihr Wissen erweitert und ihr Verlangen nach berechtigten Liebhabereien und Spielen befriedigt: Liebhabereien und Spiele, die mit der Schule zusammen dazu beitragen, dem Vaterlande eine gesunde, tüchtige und fröhliche Generation zu erziehen.» Linsmayer setzt Schwerpunkte und führt uns durch die Politik, Bildung, Gesundheit, Gesellschaft, Natur, Technik usw. und beleuchtet dabei 100 Jahre Schweizer Kulturgeschichte. Diese thematische Gruppierung ist insofern klug, als dass über die Lektüre sichtbar wird, wo und wann ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Wenig Wechsel gabs bei der Kunst. Einem Diktum Pestalozzis folgend, wonach «Anschauung das absolute Element aller Erkenntnis» sei, wurden bis in die 1950er-Jahre in jeder Ausgabe Meisterwerke reproduziert. Das Kunstinteresse der Macher reichte allerdings nicht über den Impressionismus hinaus.

Bei aller didaktischen Absicht: Den Erfolg des Kalenders begründete der Wettbewerb. Tatsächlich hofften in den hundert Jahren Hunderttausende auf einen Preis. Einige kennt man gar: den Illustrator Celestino Piatti zum Beispiel oder den 12-Jährigen aus Konolfingen, der für seine «Schweizer Schlacht» eine Uhr erhielt. Sein Name: Friedrich Dürrenmatt. In den «Stoffen» (1981) erinnert er sich ans Geschenk: «Ich war so aufgeregt, als ich vor der Haustür die Uhr auspackte, dass sie auf den Steinboden fiel. Sie war nicht mehr zu reparieren.»

Universitätsbibliothek Bern,
Münstergasse 61. Bis 30. August.

Interview mit dem Kurator Charles Linsmayer:
Der rebellische Zeitgeist ist schon spürbar
Der Pestalozzikalender hat das Image eines beschaulichen Büchleins mit einer wertkonservativen Grundhaltung.

Charles Linsmayer: Das stimmt für die Anfänge unter Bruno Kaiser, aber nicht für die ganzen 100 Jahre Kalendergeschichte. In den späten achtziger und frühen neuziger Jahren ist durchaus ein gewisser rebellischer Zeitgeist zu spüren, der aber heute eher wieder einer angepassten Spielart Platz gemacht hat.

Ein Kritiker war der Publizist Hans A. Pestalozzi, der 1983 den Pestalozzikalender als eine «der übelsten Publikationen für Jugendliche, die mir je in die Hände gekommen ist», schimpfte.

Linsmayer: Pestalozzi stiess sich daran, dass der Kalender mit Werbung von Banken und Wirtschaftsunternehmen aufwartete, war sich aber nicht bewusst, dass er als Erfindung eines Warenhauses von allem Anfang an auch ein Werbeträger war und vor allem das Schatzkästlein in der Blütezeit gut einen Viertel Werbung für alles mögliche enthielt.

Der Kalender war konfessionell neutral. Konnte er diese Haltung konsequent durchziehen?

Linsmayer: Soweit ich sehe, wurde das Thema Religion überhaupt nicht thematisiert. Ganz im Unterschied zum katholischen Pendant «Mein Freund», wo es vor allem in den ersten Jahren ab 1922 ein zentrales Thema war.

Gab es in der Schweizer Ausgabe nie den Versuch der politischen oder ideologischen Beeinflussung?

Linsmayer: Der Kalender war von Anfang an und bis heute so unbeirrt staatstreu, dass nie eine Korrektur nötig wurde. Heikle Themen wie Sexualaufklärung, wie sie bei den SJW-Heftchen zum Konflikt führten, nahm der Kalender gar nicht erst in Angriff.

Wie wurden politische Themen wie das «Frauenstimmrecht» behandelt?

Linsmayer: Das Frauenstimmrecht ist › auch im Mädchenkalender › nie wirklich thematisiert worden.

Der Pestalozzikalender im 21. Jahrhundert. Hat er gegenüber dem Internet überhaupt eine Chance? Welche?

Linsmayer: So wie der Kalender heute von Martin von Aesch und Anna Luchs getextet und gestaltet wird, hat er in seiner kinderfreundlichen, frisch wirkenden Aufmachung und mit seinen attraktiven Themen durchaus eine Chance, die zweiten hundert Jahre gut anzufangen.

© Der Bund; 06.03.2008; Seite 23
Ausstellung «100 Jahre Pestalozzi-Kalender» in Bern
Schüler-Bildwelten vergangener Zeiten

Catherine Arber

Schamhaft liess Bruno Kaiser die ersten Exemplare des Pestalozzi-Kalenders durch Kolporteure auf Zürcher Schulhöfen verteilen. In Bern, wo der Juniorchef des Warenhauses Kaiser beheimatet war, schien ihm das Verteilen des handlichen Büchleins mit dem Titel «Kaisers neuer Schweizer Schülerkalender 1908» wohl eine zu heisse Sache zu sein. Auf der Titelseite war das Pestalozzi-Denkmal in Yverdon abgebildet, weshalb die Schülerinnen und Schüler das Büchlein bald in «Pestalozzi-Kalender» umtauften. Und sie fanden Gefallen an diesem neuen Schriftwerk, das nicht nur ein 120 Seiten dickes Kalendarium beinhaltete, sondern auch abwaschbare Schiefertafeln, Rubriken für Stundenplan und Taschengeld, Seiten mit Statistiken und unregelmässigen Verben beinhaltete. Beliebt war vor allem auch der Wettbewerb, der in der Folge zu einem Markenzeichen des Büchleins werden sollte: 10 000 Antworten gingen in acht Monaten ein. Für 1909 wurden schon vor dem Erscheinen 16 000 Stück des Fr. 1.50 teuren Kalenders bestellt. Ab 1910 gab es eine französische, ab 1918 eine italienische Ausgabe, daneben erschienen auch Pestalozzi-Kalender für Argentinien, Holland, Dänemark, Deutschland, Frankreich und Belgien.

Eine Abfallmulde im Oktober

Eine Ausstellung in der Universitätsbibliothek Bern blickt nun auf 100 Jahre Pestalozzi-Kalender zurück. Das Ausstellungskonzept stammt von «Bund»-Kultur-Autor Charles Linsmayer. Durch Zufall stiess er an einem verregneten Tag im Oktober 1990 an der Zürcher Klosbachstrasse auf eine Abfallmulde, die mit Pestalozzi-Kalendern gefüllt war, und rettete, was er tragen konnte, in seine nahe gelegene Wohnung. Linsmayer liess die Büchlein trocknen, vertiefte sich in die Lektüre – und entwickelte eine Ausstellung, die ab heute unter dem Titel «,. . . denn dem Auge glaubt das Gehirn‘. 100 Jahre Pestalozzi-Kalender» zu sehen ist.

Kultur und Staatskunde

Im bis heute vertriebenen Pestalozzi-Kalender spiegle sich, so Linsmayer, «auf eindrückliche Weise hundert Jahre Kultur-, Erziehungs- und Befindlichkeitsgeschichte der Schweiz». Es würden Paradigmenwechsel in Sachen Idole und Vorbilder, Sport, Umwelt oder Technik fassbar und dadurch Veränderungen in Stil und Atmosphäre des Jungseins ganz konkret nachvollziehbar.

Nach Pestalozzis Motto «Anschauung ist das absolute Fundament aller Erkenntnis» war der Kalender von Anfang an mit vielen Bildern versehen. Kaiser lag die Kunstvermittlung sehr am Herzen, und so versuchte er denn mit einer Kunstgalerie der Schweizer Jugend den Geschmack am Schönen zu vermitteln. Dem Büchlein haftete aber immer auch etwas Vaterländisches an, wie Linsmayer sagte. Ab 1908 bildete der Kalender jeweils sämtliche Bundesräte ab.

Dürrenmatt und die Uhr

Doch es waren nicht diese Informationen, die zum Erfolg des kleinen Kalenders führten. Es war der Wettbewerb: Hunderttausende hofften in den vergangenen 100 Jahren auf einen Preis. Auch Prominente waren unter ihnen. Ein gewisser Fritz Dürrenmatt, Konolfingen, wurde 1934 für seine Zeichnung «Die Schweizer Schlacht» mit einer Uhr ausgezeichnet. Als der Pösteler ihm diese übergeben sollte, war Dürrenmatt so aufgeregt, dass er sein Geschenk auf den Steinboden fallen liess. Die Uhr war nicht mehr reparierbar.

[i]
Ausstellung:
Universitätsbibliothek, Münstergasse 61/62. Bis zum 30. August werktags von 8 bis 19 Uhr geöffnet, samstags von 8 bis 12 Uhr. Der Eintritt ist frei.


© Berner Zeitung; 06.03.2008; Seite 22
Zentralbibliothek

Dürrenmatts Debüt im Kindesalter

Von Pestalozzi zu Roger Federer: Der beliebte Pestalozzi-Kalender wird 100 Jahre alt. Eine Ausstellung feiert das Jubiläum.

Der Pestalozzi-Kalender, 1908 erstmals erschienen, ist eine Berner Erfindung, die ähnlich wie die Ovomaltine Schule machte: Es folgten Ausgaben für Argentinien, Holland, Dänemark, Deutschland, Frankreich und Belgien. An der Presseführung zur Ausstellung entdeckte ein über achtzigjähriger Besucher aus Argentinien eine ihm bekannte Ausgabe. So wird es wohl auch vielen Schweizer Besuchern gehen, sind doch die meisten mit dem Kalender aufgewachsen.

Kinder und Kunst

Der Schöpfer des Büchleins, welches stets mit höchsten ästhetischen Ansprüchen gestaltet wurde, war Bruno Kaiser, Inhaber des gleichnamigen Berner Warenhauses. Klar, dass im Pestalozzi-Kalender auch Werbung für Warenartikel, die besonders die Jugend ansprachen, platziert wurde. Doch Kaiser wollte die Jugend, nebst Wissen, stets auch mit Kunst konfrontieren und setzte auf opulente Illustrationen und aufwändige Holzschnitte.

Der jährlich stattfindende Zeichnungswettbewerb war von zentraler Bedeutung. Friedrich Dürrenmatt gewann als Kind mit der Zeichnung einer Schlacht eine Uhr. Das wahrscheinlich erste publizierte Werk des grossen Dramatikers ist nebst anderen preisgekrönten Zeichnungen ausgestellt.

Erziehung durch Bilder

Ein Zitat Kaisers gibt der Ausstellung den Titel: «…denn dem Auge glaubt das Gehirn.» Eine Aussage, die Kaisers Überzeugung ausdrückt, dass Bilder erzieherischer wirken als Texte.

Zum Schmunzeln

Dem Literaturwissenschaftler und Journalisten Charles Linsmayer ist eine reichhaltige Ausstellung gelungen, die den Wandel der Gesellschaft dokumentiert: Vieles bringt heute zum Stirnrunzeln und Schmunzeln, was die einst repressive Pädagogik angeht. Der Kalender war stets staatsbürgerlich orientiert und blieb dies auch während der Jugendunruhen. Die Bundesräte werden bis heute darin abgebildet und vorgestellt.

Doch statt dass Edison und Pestalozzi wie Heilige gehuldigt werden, setzt der heutige Kalender vermehrt auf Infos zu Prominenten aus Sport, Unterhaltung und Medien, wie etwa zu Roger Federer. Im Zeitalter von Internet und diversen Jugendzeitschriften ist die Bedeutung des Kalenders geschrumpft, als kulturhistorisches Phänomen allerdings höchst interessant.

Helen Lagger

Ausstellung: bis 30.August, Zentralbibliothek, Münstergasse 61/63. Vernissage: heute, 18 Uhr. www.ub.unibe.ch


© Die Südostschweiz; 07.03.2008; Seite 25
Kultur Südostschweiz Graubünden

Ein Begriff für ganze Generationen

Seit 100 Jahren ist der Pestalozzi-Kalender für Generationen von Schülern Agenda, Aufgabenheft, Freizeitlektüre und Kuriositätenkabinett in einem. Eine Schau an der Universität Bern gewährt Einblicke in die Geschichte des Kalenders.

Bern. - Ob mit Wettbewerben, Lernhilfen oder der Fülle an Informationen - der Pestalozzi-Kalender vermochte die Jugend mehrerer Generationen zu begeistern. Im Jahr 1908 erschien der Pestalozzi-Schülerkalender erstmals. Und auch heute im Zeitaler von Internet gibt es ihn immer noch.

Die Ausstellung zum 100. Geburtstag des Kalenders in der Universitätsbibliothek Bern hat ein Zufallsfund ermöglicht: 1990 stiess der Germanist und Publizist Charles Linsmayer in seiner Nachbarschaft auf eine Mulde voller Pestalozzi-Kalender. Die Pro Juventute, die den Kalender seit 1944 verlegte, hatte ihr Archiv entsorgt. Was Linsmayer retten konnte, bildet nun die Grundlage der von ihm selbst kuratierten Ausstellung mit dem Titel «... denn dem Auge glaubt das Gehirn. 100 Jahre Pestalozzi-Kalender».

Eine Schau voll Raritäten

Zu sehen sind in der Berner Schau unter anderem auch Raritäten wie ganz frühe Werke der Schweizer Künstler Friedrich Dürrenmatt (1921-1990) und Celestino Piatti (1922-2007), die sie zum traditionellen Schüler-Wettbewerb eingereicht hatten.

Die Idee für den Schülerkalender stammte ursprünglich von Bruno Kaiser, dem damaligen Juniorchef des gleichnamigen Berner Warenhauses. Die Erstausgabe hiess noch «Kaisers Neuer Schweizer Schülerkalender 1908» und wurde zur Probe gratis auf den Zürchern Schulhöfen verteilt. Doch schon im Jahr darauf betrug die Auflage bereits 16 000 Exemplare und der Kalender erhielt wegen dem auf dem Umschlag abgebildeten Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) seinen bis heute gebräuchlichen Namen.

Expansion ins Ausland

Schon bald erschien der Kalender in zwei Ausgaben, eine für Mädchen und eine für Jungen. Die Mädchen fanden in dem Buch etwa Schnittmusterbögen, die Jungen begeisterten sich für die Berichte über allerlei Erfindungen.

Dem jährlichen Malwettbewerb fieberten jahrzehntelang sowohl die Jungen als auch die Mädchen gemeinsam entgegen. Es folgte eine Expansion in die Westschweiz, ins Tessin und schliesslich ins Ausland. Davon zeugen in der Berner Ausstellung dänische, holländische, belgische und argentinische Ausgaben. In Deutschland wurde in den Dreissigerjahren sogar eine Hakenkreuz-Variante unter dem Titel «Kalender für die deutsche Jugend» produziert. Seit den Siebzigerjahren gibt es nur noch den Deutschschweizer Pestalozzi-Kalender. (sda)

Die Ausstellung dauert bis zum 30. August, Universitätsbibliothek, Bern.