© Neue Zürcher Zeitung; 03.01.2012

Schwarzenbach im «Europa»

Zu Gast bei Charles Linsmayer

Natascha Wey · Mit zehnminütiger Verspätung hat Annemarie Schwarzenbach die Bühne betreten, um kurz darauf neugierig und lächelnd in die Runde zu blicken. Das Publikum im überfüllten Restaurant Europa in Zürich erwartet gespannt die Fragen des Literaturkritikers Charles Linsmayer, der bereits zum fünften Mal für eine von ihm initiierte Reihe unterschiedliche Autorinnen und Autoren zum Gespräch geladen hat. Nun also, im Rahmen der letzten Konversation des ausklingenden Jahres am vergangenen Freitag, befragt Linsmayer Annemarie Schwarzenbach, Schweizer Schriftstellerin, Journalistin und Enkelin des Generals Ulrich Wille.

Um es vorwegzunehmen: Die junge Frau auf der Bühne ist natürlich nicht die echte Annemarie Schwarzenbach, ist diese doch bereits 1942, und somit viel zu jung, im Alter von 34 Jahren an den Folgen eines Fahrradunfalls im Engadin verstorben. An ihrer statt sitzt dort die junge Schauspielerin Sara Hostettler. Im Verlauf des Abends stellt der Schwarzenbach-Biograf Linsmayer der Imitatorin 65 Fragen, die sie mit Originalzitaten beantwortet, welche Texten, Briefen oder anderen Dokumenten aus Annemarie Schwarzenbachs Nachlass entnommen wurden. Die aus dieser Situation erwachsende, lockere Unterhaltung macht die Zuschauenden tatsächlich glauben, man befinde sich mitten in einem beschwingten Salongespräch mit der leibhaftigen Annemarie Schwarzenbach. Obschon das Double, mit weisser Bluse und im adretten Deux-Pièces, das Haar streng zurückgesteckt, etwas weniger androgyn wirkt, als man die historische Annemarie Schwarzenbach von zahlreichen Fotos her zu kennen glaubt, gelingt es Hostettler, ihre Antworten mit jenem melancholischen Ernst vorzubringen, welcher der Industriellentochter nachgesagt wird. Den Gästen wird während eineinhalb Stunden ein vielfältiger Einblick in Schwarzenbachs bewegtes Leben geboten, musikalisch stimmungsvoll begleitet von Robert Schumanns «Waldszenen» mit Rico Tigermann am Flügel. Dem Leben von Annemarie Schwarzenbach folgen Linsmayers Fragen weitgehend chronologisch. Über ihr schwieriges Verhältnis zur Mutter Renée Schwarzenbach spricht sie ebenso wie über ihre tiefe Zuneigung zu den Geschwistern Klaus und Erika Mann, Letztere seien ihr Adoptivfamilie und Erika Mann «eins mit ihrem Ideal». Die Ehe mit Claude Clarac sei sie vor allem eingegangen, um die Familie zu besänftigen, leidenschaftliche Liebe aber konnte sie nur zu Frauen empfinden, was oft dramatisch endete. Aus Schmerz und Traurigkeit schöpfte jedoch die Autorin Schwarzenbach, deren innere Verfasstheit ihr Schreiben erst bedingte, wie sie einst sagte – «denn das, von dem wir erfüllt sind, drängt nach Geburt».