William Wolfensberger 1889–1918

Ich wott kän Pfaff i de Familie», donnerte der Vater und trieb den Sohn mitleidlos für immer aus dem Haus. Germanist, Gymnasiallehrer hätte der am 17. Juni 1889 geborene Zürcher Fabrikantensohn William Wolfensberger werden sollen. Aber als er 1910 zur Theologie überwechselte, bedachte ihn der erzürnte Vater mit einem Fluch, der ihn lebenslang verfolgen sollte. Dabei hing der Fakultätswechsel mit einer unglücklichen Liebe zusammen, von der er gleichfalls nie mehr loskam. In den Theologieseminaren sass nämlich Toni Wolf, in die er unsterblich verliebt war. Aber sie liess den schüchternen Romantiker abblitzen und wurde die heimliche Geliebte von C. G. Jung. «Ich habe mich innerlich mit dem einen Menschen abgeschlossen», gestand Wolfensberger sich ein. «Und jetzt finde ich den Zugang nicht mehr zu den anderen.» Wolfensberger brachte das mit Nachhilfestunden finanzierte Studium zum Abschluss und machte sich daran, «die unerfüllten Wünsche in Amt und Religion hineinzulegen». Im Val Müstair übernahm er eine erste Pfarrstelle, und weil er zu Beginn des Ersten Weltkriegs nicht nur für das seelische, sondern mittels einer Art Selbsthilfe-Laden auch für das physische Wohl seiner Schützlinge sorgte, wählte Fuldera ihn Ende 1914 zum Ehrenbürger. Schon als Gymnasiast hatte Wolfensberger Gedichte und Erzählungen geschrieben, und im Münstertal fand er nun die Kraft, früher Entstandenes im Band «Unseres Herrgotts Rebberg» mit Neuem zu verbinden. Texte, die den erbaulichen Titel Lügen strafen und von Menschen handeln, die an Gott irre werden und an der Sehnsucht nach Liebe zerbrechen. Wobei sein Schreiben eng mit seiner Haltung als Pfarrer verwandt war, als welcher er im Sinne von Leonhard Ragaz vehement gegen soziale Missstände predigte und 1914 im Krieg einen «Bankrott des Geschäftsinstituts Kirche» erkannte. Als er dann schliesslich in seiner Pfarrei in Ungnade fiel, war es nicht der Theologie, sondern seines politisch-sozialen Einsatzes wegen: Wolfensberger war Opfer einer Verleumdungskampagne geworden, nachdem er die maroden Gemeindefinanzen von Fuldera mit einer Art Reichtumssteuer hatte sanieren wollen. Wie ein geschlagener Hund verliess Wolfensberger das Münstertal und kämpfte mit Depressionen und Selbstmordgedanken, bis er 1916 in Rheineck SG wieder eine Stelle fand, bei der er sich wohlfühlte. Und als er nun in der 22 Jahre älteren Berta Reiser auch noch eine mütterliche Freundin fand, kamen auf einmal helle Töne in seine Erzählungen und Gedichte hinein, ja er setzte Rheineck mit den «Liedern aus einer kleinen Stadt» sogar ein liebevolles Denkmal. 1918 aber, während der grossen Grippeepidemie, ging Wolfensberger so furchtlos von einem Krankenzimmer ins andere, dass es scheint, er habe den Tod, der ihn am 6. Dezember 1918 mit 29 Jahren einholte, nach wie vor herbeigesehnt. «Ich bin mir so fremd geworden und aus mir selbst gehoben», hatte er schon 1913, unheilbar liebeskrank, aus Paris an Robert Lejeune geschrieben. «Es brüllt ein Meer in mir, was soll ich tun? So muss ich warten, bis Gott kommt und mir alles wegnimmt.»

William Wolfensberger

Unsers Herrgotts Rebberg - das verhiess religiöse Erbauungsliteratur, und tatsächlich war der Verfasser der 24 Kurzgeschichten, die 1916 bei Salzer, Heilbronn, unter diesem Titel herauskamen, Theologe von Beruf. William Wolfensberger, siebenundzwanzig, Pfarrer von Fuldera im Münstertal, lieferte mit seinem Erstling allerdings alles andere als erbauliche geistliche Kost. Die Menschen, die er beschreibt, sind an Gott irre geworden, sie zerbrechen an ihrer Sehnsucht nach Liebe und enden oftmals in Wahnsinn, Selbstmord oder frühem Tod. Wenn es in ihrer Verlassenheit noch eine Hoffnung gibt - von Gott jedenfalls kommt sie nicht. »Er sorgt nicht um uns. Um keinen«, sagt der Bauer Barba-Jon. »Die Liebe, die wir haben sollten und möchten, gibt der uns nicht!«
Nicht nur als Autor, auch als Pfarrer enttäuschte Wolfensberger die in ihn gesetzten Erwartungen. So schockierte er die evangelische Bündner Synode 1914 in Davos mit einer Probepredigt, die den weltfernen Himmelsgott resolut ins irdische Jammertal herabzitierte und an kirchenkritischer Schärfe sogar Leonhard Ragaz überbot. Bald darauf predigte er in Santa Maria vor Soldaten über den »Bankrott des Geschäftsinstituts Kirche«, das den Weltkrieg zwischen christlichen Ländern nicht verhindert habe. Und die Berggemeinde, die er zu betreuen hatte, versorgte Wolfensberger, ehe er das Wort Gottes verkündete, zunächst einmal mit Mehl, Reis und Petrol. Als er auch noch die Gemeindefinanzen sanieren und mit gebetteltem Geld den Friedhof erneuern wollte, wurde der tätige Idealist das Opfer einer Verleumdungskampagne und musste das Dorf, dessen Ehrenbürger er seit kurzem war, in Schimpf und Schande verlassen.
Diese äussere Schmach kam zu jenem inneren Leid hinzu, vor dem der sensible und mit dem Vater heillos zerstrittene Hottinger Fabrikantensohn aus seinem geliebten Zürich geflohen war: Eine hoffnungslose Liebe hatte ihn zum unglücklichen, schwer depressiven Menschen gemacht und nach langem Ringen dazu geführt, dass er die »unerf'üllten Wünsche und Hoffnungen in Amt und Religion hineinlegen« wollte. 1916, nach dem Eklat in Fuldera, trug er sich mit Selbstmordgedanken, vermochte sich aber nochmals aufzufangen und im rheintalischen Rheineck neu zu beginnen. Und als er nun in Berta Reiser auch noch einer mütterlichen Freundin begegnete, kamen auf einmal frohe, helle Töne in seine Erzählungen und Gedichte hinein, ja er setzte Rheineck mit den Liedern aus einer kleinen Stadt sogar ein liebevolles poetisches Denkmal. 1918 aber, während der grossen Grippe-Epidemie, ging er so furchtlos von einem Krankenzimmer ins andere, dass es scheint, er habe den Tod, der ihn an jenem 6. Dezember mit 29 Jahren einholte, nach wie vor herbeigesehnt.
»Keiner denkt daran, wieviel Blut es gekostet hat«, lautete lapidar das Nachwort des letzten noch von ihm selbst geplanten Buches, Köpfe und Herzen. Ein Ausspruch, der für sein ganzes schmales Œuvre Geltung haben dürfte. Satz für Satz ist es dem Schicksal eines Menschen abgerungen, der es sich niemals leichtgemacht hat - weder mit sich selbst noch mit seiner Zeit.
(Literaturszene Schweiz)

Wolfensberger, William

*Zürich-Hottingen 17.6.1889, †Rheineck (SG) 6.12.1918, Schriftsteller. Der Sohn eines Kartonagefabrikanten war Schüler des Zürcher Gymnasiums und studierte danach Germanistik und Theologie. Nach dem Scheitern einer Liebesbeziehung und einer Auseinandersetzung mit dem autoritären Vater ging er 1914 als Pfarrer ins abgelegene Bündner Dorf Fuldera. W., der den Ideen von L. _Ragaz nahestand, scheiterte dort allerdings schon bald und trat 1917 nach einer schweren seel. Krise eine neue Stelle in Rheineck an. Hatte sein literar. Erstling »Unsers Herrgotts Rebhang« (En., 1916) noch einem zutiefst pessimist., todessüchtigen Welt- und Menschenbild das Wort geredet, so entstanden jetzt, im Banne eines moderaten zweiten Liebesglücks, erstmals auch Erzählungen und Gedichte von einer beinahe optimist. Tonart: »Seines Bruders Hüter« (En., postum im Bd. »Köpfe und Herzen«, 1919) oder der lyr. Zyklus »Lieder aus einer kleinen Stadt« (1918), der Rheineck eine liebevolle Hommage darbrachte. Als bewegende Zeugnisse einer unsentimentalen, niemals frömmler. christl. Dichtung wurden Publikationen wie seine »Religiösen Miniaturen« (1917) nach seinem Tod immer wieder neu aufgelegt und fanden auch die aus dem Nachlass hg. Bände rasch eine treue Leserschaft. Ein halbes Jh. später gab sein Studienkollege R. Lejeune eine einfühlsam kommentierte Ausgabe seiner »Gesammelten Werke« (1965) heraus. … Lit.: Konzelmann, M.: W.W. Leben und Wirken, Erlenbach 1924; Linsmayer, C.: W.W., in: Literaturszene Schweiz, Zürich 1989. (Schweizer Lexikon)



Wolfensberger, William

* 17. 6. 1889 Zürich-Hottingen,, † 6. 12. 1918 Rheineck/Kt. St. Gallen. - Erzähler, Lyriker; Theologe.

Der Zürcher Fabrikantensohn studierte nach dem Besuch des Gymnasiums in seiner Vaterstadt zunächst Germanistik, dann protestantische Theologie. Nach dem Scheitern einer Liebesbeziehung u. einer schweren Auseinandersetzung mit dem autoritären Vater ließ sich W. 1914 als Pfarrer ins abgelegene Bündner Dorf Fuldera wählen.
W., der den Ideen des religiös-sozialen Theologen Leonhard Ragaz nahestand, geriet mit seinem engagiert humanitären, das irdische einem himml. Glück voranstellenden Christentum dort allerdings schon bald in Konflikt mit den Verfechtern des traditionellen Amtskirchentums. Das spiegelt sich auch in seinem literar. Erstling, den autobiographisch bestimmten Erzählungen Unsers Herrgotts Rebberg (Heilbr. 1916), wider, die einem zutiefst pessimistischen Welt- u. Menschenbild das Wort reden u. sich allein schon deshalb auffallend von der damals im Schwange stehenden Schweizer Heimatliteratur abheben. Die Gestalten dieses Buchs sind an Gott irre geworden, sie zerbrechen an ihrer Sehnsucht nach Liebe u. enden oftmals in Wahnsinn, Selbstmord oder frühem Tod. »Er sorgt nicht um uns. Um keinen«, sagt der Bauer Barba-Jon in der Erzählung Aus einsamer Welt über Gott, »die Liebe, die wir haben sollten und möchten, gibt der uns nicht!«
1917, nach einer tiefen seelischen Krise, trat W. eine neue Pfarrstelle im rheintalischen Rheineck an, u. hier, in einer ihm wohlgesinnten Umgebung u. im Banne eines moderaten zweiten Liebesglücks, schrieb er erstmals auch Erzählungen u. Gedichte von einer helleren, beinahe optimistischen Tonart: die Erzählung Seines Bruders Hüter (postum erschienen im Band Köpfe und Herzen. Zürich 1919) oder den 1918 in Zürich erschienenen lyrischen Zyklus Lieder aus einer kleinen Stadt, der dem Städtchen Rheineck, wo W. mit 29 Jahren als Opfer einer Grippeepidemie starb, eine liebevolle poetische Hommage darbringt. Als bewegende Zeugnisse einer unsentimentalen, niemals frömmlerischen christlichen Dichtung wurden Publikationen wie Religiöse Miniaturen (zuerst Heilbr. 1917) nach W.s Tod immer wieder neu aufgelegt u. fanden auch die aus dem Nachlaß herausgegebenen Bände Legenden (Zürich 1919), Narren der Liebe (ebd. 1920) u. der Gedichtband Kreuz und Krone (ebd. 1920) rasch eine treue Leserschaft. Ein halbes Jahrhundert später gab W.s Studienkollege Robert Lejeune eine einfühlsam kommentierte Ausgabe von dessen Gesammelten Werken (Frauenfeld 1965) heraus.

LITERATUR: Max Konzelmann: W. W. Leben u. Wirken. Erlenbach 1924.
(Bertelsmann Literaturlexikon)