Carl Friedrich Wiegand

»Blutscheusale« schimpfte man sie, und doch konnte die Phalanx aus Zünftern, Politikern und Professoren nicht verhindern, dass Ferdinand Hodler 1899 seine Marignano-Fresken in die Waffenhalle des Landesmuseums pinseln durfte. Wie radikal sich dann aber - gerade dank der Hinwendung zu männlich-kraftprotzerischen Landsknechten, Holzfällern, Mähern und namentlich zu Wilhelm Tell! - Hodlers schweizerische Reputation wandelte, zeigt nichts so schön wie der Erfolg des Volksdramas Marignano von Carl Friedrich Wiegand. Die Erstaufführung dieses Schauspiels wurde 1911 nämlich vor allem deshalb zum Grossereignis, weil Autor und Veranstalter Nutzen aus Hodlers inzwischen märchenhaft angestiegener Popularität zu ziehen wussten.
Das Drama, das Laienspieler aus Arth am 16.Juli 1911 auf dem eigens geschaffenen »Nationalspielplatz Morschach« erstmals aufführten, bewarb sich als Theaterfassung von Hodlers Rückzug aus Marignano um die Publikumsgunst und stellte das Gemälde im 4. Akt auch tatsächlich als lebendes Bild auf die Bühne. Wiegand hatte den rückzugdeckenden Krieger von rechts aussen aus Hodlers Fresken herausgegri fen und zum Helden seines Dramas gemacht. Mit Hodlers Einwilligung zierte dieser »blutige Krieger« auch den Umschlag des Textbuches sowie das Plakat, mit dem die Morschacher Hoteliers in ganz Europa für ihr Theaterspektakel warben. Werni Schwyzer heisst der Mann bei Wiegand. Er ist in der Verbannung wider Willen französischer Söldner geworden, tritt 1515 in Marignano zu seinen Schwyzer Landsleuten über und deckt ihren Rückzug laut Textbuch »so, wie Ferdinand Hodler ihn gemalt«. Als der geschlagene Haufe in Schwyz eintrifft, hält Wernis Bruder Ruodi eben Hochzeit mit dessen Braut Judith. Obwohl man den Verbannten rehabilitieren will und Judith von der Ehe zurücktritt, verkraftet Werni die Enttäuschung nicht. »Mit dem gemarterten Gesicht eines zum Leben Verurteilten« zieht er erneut hinaus in die Fremde.
Oft ist das Pathos unerträglich, tönen die Dialekt-Brocken mehr bayrisch als schweizerisch, und doch ist Wiegands Drama mit seiner spannenden Rahmenhandlung, vielen packenden Einzelszenen und mit einer erstaunlich kritischen Sehweise des Söldner-Unwesens weit mehr als bloss eine Hodler-Adaption. Die Freilichtspiele von 1911 jedenfalls waren mit Grund ein Riesenerfolg, und noch im gleichen Jahre folgten Aufführungen in Basel und Zürich. 1913, auf dem Höhepunkt der deutschen Hodler-Begeisterung, erntete Marignano auch in Leipzig viel Beifall. Dann aber wurde die werbeträchtige Nähe zu Hodler dem Stück in Deutschland zum Verhängnis. Als der Maler 1914 zum Franzosenfreund und damit zur Unperson erklärt wurde, war auch Wiegands Marignano, ehe es sich hatte durchsetzen können, für Deutschland tabu. Und dies, obwohl der Wahlschweizer Wiegand, der 37 Jahre als vielgerühmter Lehrer in Zürich lebte und zu den originellsten Köpfen der Schweizer Literaturszene zählte, 1914 bis 1918 für den Kaiser freiwillig im Felde stand ... (Literturszene Schweiz)