Josef Viktor Widmann 1842–1911

«Es war die reine Robinsonade, als ich, auf dem Verdeck des Holzschiffes stehend, anlegen liess, bei unserm Hause die Kinder vor Vergnügen tanzten, die Hunde bellten, die Katzen miauten.» So beschrieb Josef Viktor Widmann, wie er am 1. April 1880 nach Stampach am Thunersee zügelte, wo er sich in seinem «natürlichen Element als Bürger der grossen Republik aller jemals wegen politischer oder religiöser Ketzerei Verfolgten» fühlte. Zwölf Jahre war der inzwischen 38-jährige Theologe Direktor der Berner Einwohnermädchenschule gewesen und hatte sie zu internationalem Ansehen gebracht. 1879 aber war er abrupt entlassen worden: Nach Ansicht der Behörden brachten seine Epen «Buddha» und «Moses und Zipora» eine «zersetzende Weltanschauung» zum Ausdruck. Die Thunersee-Idylle dauerte nur wenige Monate. Dann ernannte der «Bund» Widmann zum Feuilletonredaktor, was er bis zu seinem Tod am 6. November 1911 blieb; wobei er den Bereich «unter dem Strich» als einen Ort sah, wo nicht nur kulturelle, sondern auch politische Fragen diskutiert wurden. So rückte er 1884 zwei Reihen Striche ins Blatt, um damit «22 Canapés für die Philister beiderlei Geschlechts» darzustellen, «die über der blossen Vorstellung ‹Frauenstimmrecht› in Ohnmacht sinken». 1888 erreichte er die Abschaffung der Prügelstrafe in den Berner Armenverpflegungsanstalten. Am weitesten aber ging er 1888, als er seine Freundschaft zu Johannes Brahms in Gefahr brachte, weil er der Thronrede Wilhelms II. «Menschenverachtung» attestierte. Am bedeutendsten jedoch war Widmann als Literaturkritiker. Obwohl im Grunde konservativ, förderte er Talente wie Hermann Hesse oder Robert Walser, dessen erste Gedichte er 1898 druckte. Problematisch war dagegen sein lebenslanger Einsatz für den Jugendfreund Carl Spitteler, den er, befangen im eigenen klassizistisch-ästhetisierenden Dichtertum, bestärkte, dem antikisierenden Epos treu zu bleiben. Was Gottfried Keller ihm 1885 auf die Zusendung von Spittelers Versen hin antwortete, gilt im Grunde auch für sein eigenes Œuvre: «Mit allen Schätzen der Begabung erwecken diese Werke nicht das Gefühl eines aufgehenden Lichtes, sondern sie erinnern an die Perioden des Verfalls, die in den Künsten jeweilig erscheinen, wenn die erreichte reine Meisterschaft in Manierismus und Pedantismus ausartet.» Was Widmann dichtete, wurzelte in einer biedermeierlich verflachten antiken Kulturwelt. Der einstige Töchterschuldirektor hatte eine Vorliebe für griechische Backfische und einen Hang zur Idylle. Den tragischen Pessimismus aber, den seine bekanntesten Werke, die «Maikäferkomödie» und «Der Heilige und die Tiere», verkünden, nimmt man dem leutseligen Lebenskünstler nicht ab. «Diese verdammte Vergnügtheit», schrieb er 1892 Arnold Ott, «versperrt mir sicher noch den Platz in der Literaturgeschichte!» In die Geschichte der Aufklärung aber gehört der ketzerische Zeitkritiker mit Sicherheit hinein. Und auch in die Geschichte des Journalismus, der ihm mehr war als der Brotberuf eines ambitionierten Literaten. «Ich bin Journalist aus Temperament», antwortete er im Nachhinein auf Gottfried Kellers Bedauern über seine vergeudete Zeit als Journalist. «Und darum war mir ein Beruf, der uns zwingt, zu allen Fragen, die die Welt des Tages an unseren Strand stösst, sofort Stellung zu nehmen, niemals eine äussere Zutat zu meinem Leben, sondern war die Tätigkeit, die ich mit vollem Anteil meines Herzens ausübte.»

Widmann, Josef Victor
Nennowitz (Mähren) 20.2.1842, †Bern 6.11.1911, Schriftsteller und Literaturkritiker. Der Sohn des ehem. Zisterziensermönchs und späteren evang. Liestaler Pfarrers Josef Otto W. (*1816, †1873) besuchte die Volksschule in Liestal (BL) und das Gymnasium in Basel, wo er u.a. Schüler J. Burckhardts war und sich mit C. Spitteler befreundete. Ab 1861 studierte er in Basel, Heidelberg und Jena Theologie, heiratete kurz nach seiner Ordination 1865 Spittelers Tante Sophie Brodbeck und wurde 1868 Vizedirektor der Einwohnermädchenschule Bern.