Keuschheit um jeden Preis: Otto Weininger (1880-1903)

Mehr als hundert Jahre alt ist das Buch, und noch immer schockiert es wie am ersten Tag. Der Mann sei Form, das Weib Materie, behauptet es. Rein fänden sich die Prinzipien M und W nie vor, aber je mehr M sie habe, desto emanzipierter sei die Frau. Mit andern als geschlechtlichen Dingen befasse die Frau sich nur um des Mannes willen, aus Unkenntnis der Wahrheit sei sie verlogen und schamlos. Und weil beim Koitus mindestens eine Person nur als Mittel fungiere, sei dieser unmoralisch und könne die Losung des «verantwortlichen Mannes» nur heissen: «Keuschheit, selbst um den Preis des Aussterbens der Menschheit!» Die Frau aber, die wirklich «entsagt» habe, die aufgehört habe, «Objekt und Materie für den Mann sein zu wollen», sei kein Weib mehr. Glücklich mache die Emanzipation sie aber nicht, und die alles entscheidende Frage laute: «Wird das Weib sich entschliessen können, die Sklaverei aufzugeben, um unglücklich zu werden?» Mit «Geschlecht und Charakter», der 630-seitigen Endfassung seiner Dissertation, stellte der 23-jährige Otto Weininger sich diametral gegen Freud. Und natürlich gegen die Frau, aber auch gegen sein eigenes Judentum, das er tief unter dem Christentum ansiedelte. Den prophezeiten «Kampf zwischen Judentum und Christentum, zwischen Geschäft und Kultur, zwischen Weib und Mann», mit dem «die jüdischste, aber auch die weibischste aller Zeiten» ihr Ende finde sollte, erlebte Weininger allerdings nicht mehr. Nach der Devise «Der anständige Mensch geht selbst in den Tod, wenn er fühlt, dass er endgültig böse wird», erschoss sich der junge Provokateur, der auf Kafka und Canetti, aber auch auf D.H.Lawrence, Wittgenstein und Thomas Bernhard eine tiefe Wirkung ausüben sollte, noch im Erscheinungsjahr seines Buches, am 4. Oktober 1903, im Sterbehaus Beethovens, seines höchsten künstlerischen Idols.