Otto F. Walter

Die Gattung Roman war eben wieder einmal für tot erklärt worden, als 1959 Der Stumme von Otto F. Walter erschien und von der Kritik begeistert als Beweis des Gegenteils begrüsst wurde. »Tröstlich, dass solches heute geschrieben werden konnte«, frohlockte Der Monat und attestierte dem Buch: »Es ist ein als Dichtung herrlich gelungener Roman, nicht die Romanfassung irgendeiner Dogmatik.« Auch die NZZ sprach von einer »Leistung«, die sich »in ihrer Echtheit selber trägt«, und stellte das Buch demonstrativ dem modischen »Anti-Roman« gegenüber. So war es nur folgerichtig, dass Der Stumme bald einmal zum Klassiker der Moderne aufrückte, zu einem jener Bücher, die verfilmt, in Kreuzworträtseln buchstabiert und als Schullektüre benutzt werden.
Ganz im Gegensatz zu diesem berühmten Erstling, aber auch zu den ab 1972 erschienenen, stärker politisch ambitionierten Büchern Die ersten Unruhen, Die Verwilderung, Wie wird Beton zu Gras?, Das Staunen der Schlafwandler am Ende der Nacht und der grossangelegten, alles Bisherige überspannenden Zeit des Fasans, fand Walters zweiter, 1962 publizierter Roman, Herr Tourel, eine merklich kühlere Aufnahme und verschwand bald wieder aus dem Gespräch. Und fragt man sich aus der Distanz von bald drei Jahrzehnten, woran dies gelegen haben könnte, so stösst man auf einen überraschenden Befund. Walters zweites Buch wurde offenbar nicht deshalb als Enttäuschung empfunden, weil es das Niveau des Stummen nicht wieder erreichte, sondern, im Gegenteil, weil es den Erstling an Virtuosität der Komposition, Radikalität der Gedankenführung und Modernität der Sprache bei weitem überflügelte! Wie ganz selten seit dem Expressionismus war es hier einem Autor gelungen, Inhalt und Form eines Romans restlos zur Deckung zu bringen. Anders als im Stummen, wo die Unstimmigkeit der Welt durch die Stimmigkeit des literarischen Kunstwerks und der klassisch-korrekten Sprache gleichsam aufgehoben wird, ist hier die innere Verstörung eines Menschen bis in die Sprache hinein fassbar. Orthographie und Syntax verlieren ihre Verlässlichkeit, das Erzähler-Ich ist vielfach gebrochen und lässt als Negativ-Figur keine Identifikation mehr zu. Auch auf den Bericht als solchen ist kein Verlass mehr, und der Leser selbst muss es übernehmen, durch das Dickicht von Lüge und Verstellung hindurch zur Wahrheit vorzustossen. Kaspar Tourel, vielleicht ein Bruder des »Stummen«, besitzt zwar die Gabe der Rede, aber er will den Leser nicht aufklären, sondern in die Irre führen. Und er verschleiert seine Geschichte so lange und so redselig, dass der Leser schliesslich seine Schuld am Tode zweier Menschen für erwiesen hält.
So modern das Buch anmutet, langweilig ist es bei aller erforderlichen Lesekonzentration keineswegs. Und wenn sich im zweiten Drittel die einzelnen Fakten wie in einem Puzzle langsam zu einer erschütternden Geschichte verdichten, so gerät man als Leser in eine Spannung hinein, wie sie ein linear erzählter, konventioneller Roman nur sehr selten zu erzeugen vermag.

Otto F. Walters Werke erscheinen im Rowohlt-Verlag, Hamburg. (Literturszene Schweiz)