Alexandre Vinet 1797–1847

«Nur von Revolte zu Revolte vervollkommnen sich die Gesellschaften, entsteht die Kultur, regiert die Gerechtigkeit, blüht die Wahrheit.» Der Satz steht nicht im berühmten roten Büchlein des Vorsitzenden Mao, sondern in einer anonymen Flugschrift von 1829, die sich gegen das repressive Vorgehen der Waadtländer Behörden in Sachen Sektenpredigten wandte. Natürlich wurde die aufmüpfige Broschüre konfisziert, und ihr Verfasser, der am 17. Juni 1797 in Ouchy geborene Theologe Alexandre Vinet, erhielt zwei Jahre Berufsverbot. Eine Strafe, die Vinet allerdings wenig kümmerte, lebte er doch seit zwölf Jahren als Gymnasiallehrer für französische Sprache und Literatur in Basel. Nach Lausanne kehrte er erst 1837 zurück, als die Anhänger der autoritären Staatskirche nicht mehr zu verhindern vermochten, dass Vinet, der inzwischen als Verfechter einer freien Gewissensreligion weltberühmt geworden war, die Professur für Praktische Theologie übernehmen konnte. Obwohl die Gegner 1845 noch einmal triumphierten und ihn zum Rücktritt zwangen, erlebte Vinet doch kurz vor seinem Tod am 4. Mai 1847 noch die Gründung der waadtländischen Freikirche, die als erste christliche Gemeinschaft ganz seinen Ideen von der Gewissensfreiheit des Einzelnen verpflichtet war und in der Geschichte des Protestantismus Schule machen sollte. Vinet, für den «Protestant sein unaufhörliches Protestieren gegen jeglichen religiösen Zwang» bedeutete, hat seiner früh kränkelnden Konstitution ein dreissigbändiges schriftstellerisches Werk abgerungen, das weit über den Bereich der Theologie hinausweist. So bewahrte er sich als langjähriger einflussreicher Literaturkritiker des protestantischen Pariser «Semeur» einen für jene romantisch-überschwängliche Epoche erstaunlich nüchternen und klaren Blick, was allerdings seinem eigenen literarischen Schaffen – vor allem Lyrik, die eher trocken und konventionell wirkt – auch wiederum geschadet haben dürfte. Dass für den Verfasser einer dreibändigen «Chrestomathie», einer kritischen Anthologie literarischer Beispieltexte, Literatur nicht nur nach ästhetischen und sprachlichen, sondern auch nach inhaltlichen Gesichtspunkten zu beurteilen sei, war damals wie heute für viele nur schwer nachvollziehbar. Von kaum zu überschätzender Bedeutung dagegen sind Vinets Ideen und Gedanken zur schweizerischen Politik. Er misstraute dem absolut gesetzten Volkswillen, dieser amorphen Summierung privater Egoismen, und wünschte sich stattdessen eine «Autorität der Wohlgesinnten», welche in Sachfragen, nicht aber in Wahlen, den Ausschlag geben müsste. Auch der helvetischen Abkapselungstendenz trat er schon 1833, als von Uno und EU noch keine Rede sein konnte, mit Entschiedenheit entgegen. «Mehr denn je bin ich überzeugt», schrieb er einem Freund, «dass der wahre Schutzwall der Schweiz nicht ihre Neutralität, sondern ihre Moralität ist.» Denjenigen aber, die in jeder Neuerung den Untergang des Vaterlandes sehen und der Jugend immer wieder ihre eigenen ausgetretenen Fussstapfen zuweisen wollen, rief der liberale Protestant Vinet am Vorabend der Gründung des modernen schweizerischen Bundesstaats die Mahnung zu: «Das einzige Mittel, einer Revolution zuvorzukommen, ist, sie durchzuführen.»