Raphael Urweider *1974
«Nacht zieh an den teppichen der meere / mit der muskelkraft des mondes / lass die muscheln aufscheinen in ihrer helle /
im dunklen sand lass die quallen leuchten / wie radiumsalz auf zifferblättern ...» Am 11. Februar 2014 trug Raphael
Urweider im Rahmen einer Veranstaltungsreihe im Berner Münster sein Langgedicht «Nacht» vor, und ob der
lyrischen Kraft dieser Verse, der Verbindung von traditionellem Gestus und inhaltlicher Modernität, von Klarsicht und
Emphase, müsste das Publikum eigentlich an Novalis gedacht haben, der sich dem Phänomen Nacht um 1800 auf eine ganz
ähnliche Weise genähert hat. Raphael Urweider, am 5. November 1974 in Bern als Sohn eines reformierten Pfarrers
geboren, aufgewachsen in Schattenhalb bei Guttannen und in Biel, Literaturstudent in Freiburg, Absolvent der Jazz-Schule Bern,
hat sich, teils im Bereich von Rap und Hip-Hop, teils in bewusster Nachfolge von Dichtern wie H. C. Artmann, voll und ganz der
Lyrik verschrieben. Nicht im Sinn von intimen Bekenntnissen oder hermetischer Artistik, sondern im Sinn einer ganz praktischen
sprachlich-künstlerischen Betätigung, die der Wissenschaft näher steht als der poetischen Selbstfindung.
«Lyrik hat für mich», bekannte schon der 25-Jährige 1999, «nichts mit geistigen
Höhenflügen oder germanistischem Rätselraten zu tun; Lyrik ist eine Geisteshaltung oder eine
Lebenseinstellung.» Bekannt wurde Urweider zunächst nicht mit einem Buch, sondern mit dem unveröffentlichten
Gedichtzyklus «Manufakturen», der ihm 1999 den Leonce-und-Lena-Preis einbrachte. Die Gedichte, die im Jahr darauf
im Erstling «Lichter in Menlo Park» publiziert wurden, kommen ohne lyrisches Ich aus und widmen sich in lustvoll
artikulierten freien Rhythmen einer Reihe von legendären Forschern und Wissenschaftlern wie Kopernikus, Neil Armstrong
oder Thomas Edison, zu deren Entdeckungen das lyrische Welterkunden eine starke Affinität entwickelt. «guten tag
herr gutenberg spricht ein mainzer / winzer er zwinkert dem meister zweiäugig zu» beginnt das Gedicht über den
Erfinder des Buchdrucks, während ein anderes so anfängt: «herr galilei ist der grosse erfinder von / sonne
mond und sternen ...» Neben «Manufakturen» enthielt der Erstling 2000 aber auch Zyklen, die das Spektrum
bedeutend erweiterten: die welthaltigen Verse von «Kontinente», die ländlichen Evokationen von
«Kleinbauern» und Gedichte, die sich mit Bach und Chopin auseinandersetzten. 2003 erschien Urweiders zweiter
Gedichtband, «Das Gegenteil von Fleisch», und wieder ging darin unter Abstrahierung von eigenen Gefühlen die
lyrische Erkundung der Welt mit wissenschaftlicher Akribie weiter und erreichte im Zyklus «Steine», mit dem er
beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt Furore machte, eine Dimension, in der organische und anorganische Welt sich
auf ebenso luzide wie tragische Weise unversöhnt gegenüberstehen. Für viele überraschend brachte dann
Urweiders dritter Lyrikband, «Alle deine Namen», 2008 eine sinnliche Lebensfreude zum Ausdruck, die seinen
Gedichten bis dahin fremd gewesen war. Da tauchen intensiv nachempfundene Landschaftsbilder auf, wird in einem
lustvoll-humorigen Reigen 27 Frauen je eine Hommage dargebracht und kommen Alkoholika wie Wodka, Whisky, Cognac oder Gin als
Elixiere einer dichterischen Potenz ins Spiel, von der, nüchtern oder im Rausch, für die Lyrik des 21. Jahrhunderts
noch einiges an Überraschungen zu erwarten ist.