Ein gescheiterter Utopist: Henri de Saint-Simon (1760-1825)

Wer kennt ihn noch, den Theoretiker des Industrialismus, der den Adel und die Kirche endgültig auf den zweiten Platz verwies und Industrie und Wissenschaft zu den Grundpfeilern der Gesellschaft erklärte? Er hatte, ehe er seine Thesen formulierte, die sozialen Möglichkeiten selbst à fonds durchlebt, der 1760 in Paris geborene Comte Henri de Saint-Simon. In Amerika kämpfte er unter Washington, die Revolution machte ihn über Nacht mausarm, als Spekulant gelangte er zu neuem Reichtum, den er aber wieder verspielte, so dass er am Ende auf dem Pfandbüro arbeiten und sich von seinem ehemaligen Diener unterstützen lassen musste. Genau in dieser Situation aber entwickelte er nun die Ideen, die als «Saint-Simonismus» berühmt wurden: Gemeinsamkeit statt sozialer Antagonismus, Allgemeinbesitz der Reichtümer und Betriebsmittel, eine Religion, die sich auch um das Materielle und nicht nur um die Seelen kümmert. 1803 erschien seine erste Druckschrift, die «Lettres d'un habitant de Genève à ses contemporains». Saint-Simon, der damals in Genf lebte, fordert darin einen 21köpfigen Wissenschaftsrat, der effiziente Forschung im Dienst des Fortschritts ermöglichen solle. Die Menschen teilt er ein in Gelehrte, Künstler und Liberale, neuerungsfeindliche Besitzende und in die dritte, arme und besitzlose Klasse, die aber von dem Plan profitieren könnte, weil die auch ihr offenstehenden Bildungsmöglichkeiten «den Grad der von den Reichen über sie ausgeübten Herrschaft mindern» würde. Am Ende läuft das Projekt auf ein soziales System hinaus, das den Gelehrten die geistige, den Besitzenden die politische Macht und allen das Recht gewährt, die Regierung selbst zu bestimmen. Der zweite Brief erzählt dann einen Traum, in dem Gott das System weiter ergänzt: um das Frauenstimmrecht zum Beispiel und um eine allgemeine Friedens-Weltreligion, die sich die ganze Erde untertan macht. Die Enttäuschung über die Wirkungslosigkeit seiner Ideen war so gross, dass Saint-Simon 1823 einen Selbstmordversuch unternahm und 1825 mit 65 Jahren enttäuscht und verbittert starb.