Leonhard Ragaz 1868–1945

«Die Schweiz ist in Gefahr. Es ist eine tödliche Gefahr.» So beginnt ein Buch, das im März 1918 bei Trösch in Olten erschien und den Titel trug: «Die neue Schweiz. Ein Programm für Schweizer und solche, die es werden wollen». Mit expressionistischer Sprachkraft wandte sich da einer an seine Landsleute, zeichnete das Bild der Schweiz im Krieg und am Vorabend des Generalstreiks in düsteren Tönen, um dann das Programm einer nationalen Selbstbesinnung zu entwerfen. Der politischen müsse endlich die soziale Demokratie hinzugefügt werden, war das Hauptpostulat. Dazu forderte das Buch Vaterlandsliebe statt Nationalismus, lebendigen Föderalismus statt Parteienherrschaft, grossmütige Asylpolitik statt Nobeltourismus. Es kämpfte für die Gleichberechtigung von Mann und Frau und für eine zur Freiheit erziehende Schule. Und gipfelte in der Vision der Schweiz als einem «Hochland», dessen Auftrag es sei, «die Quellen des Geistes zu hüten, von denen die Völker leben». Der Prophet eines weltoffenen christlichen Sozialstaats Schweiz hiess Leonhard Ragaz und war am 20. Juli 1868 als Bauernsohn im bündnerischen Tamins zur Welt gekommen. 1890 wurde er nach Studien in Basel und Berlin evangelischer Pfarrer in Flerden am Heinzenberg, 1895 in Chur und 1902 am Basler Münster. Von dessen Kanzel herab vertrat er anlässlich eines Maurerstreiks 1903 erstmals öffentlich jene Doktrin, die als «religiös­sozial» bekannt wurde und deren engagierter Wortführer er – nicht zuletzt in der Zeitschrift «Neue Wege» – zusammen mit dem Zürcher Pfarrer Hermann Kutter (1861–1931) war. Die Sozialisten hätten das Evangelium besser begriffen als die Kirchenchristen, meinte er; das Evangelium sei da zu verwirklichen, wo es am nötigsten sei: bei den Armen und Entrechteten; das Christentum müsse, wie er in seinem siebenbändigen theologischen Hauptwerk «Die Bibel – Eine Deutung» nachweisen sollte, durchaus als etwas Politisches verstanden und gelebt werden. 1908 wurde Ragaz Theologieprofessor in Zürich, im Ersten Weltkrieg erregte er als Anwalt von Dienstverweigerern Aufsehen, und als er 1918 «Die neue Schweiz» publizierte, kämpfte er damit nicht zuletzt gegen den Graben, der sich seit 1914 zwischen den mit Deutschland sympathisierenden Deutschschweizern und den franzosenfreundlichen Welschen aufgetan hatte. 1921 gab er die Professur ohne Pensionsberechtigung auf und zog vom Zürichberg nach Aussersihl, wo er zusammen mit seiner Frau, der Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin Clara Ragaz­Nadig (1874–1957) ein Arbeiterhilfs­und ­bildungswerk aufbaute. Er war in der europäischen Friedensbewegung aktiv, vertrat einen konsequenten Pazifismus und trat 1935 aus der SP aus, als diese ihren Antimilitarismus aufgab. In der Nazizeit kämpfte er gegen die anpasserische Haltung Deutschland gegenüber, verweigerte sich dem Verdunkelungsgebot und publizierte die «Neuen Wege», als sie unter Militärzensur gestellt wurden, illegal weiter. Als letzte grosse Enttäuschung empfand er kurz vor seinem Tod am 6. Dezember 1945, dass die Schweiz der UNO nicht beitrat. «Das Fernbleiben von dem neuen Völkerbund ... bedeutet für mich vollends den Tod der Schweiz», schrieb er resigniert auf den letzten Seiten seiner posthum erschienenen Autobiografie «Mein Weg».

Der Bund vom 30.01.1993 zu Ragaz