Hans Mühlestein 1887–1969

Zu den Intellektuellen, deren Schicksal zutiefst durch die ideologischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts geprägt war, gehört der am 15. März 1887 in Biel geborene und am 25. Mai 1969 in Zürich verstorbene Hans Mühlestein. Früh als Lyriker präsent, studierte der Absolvent des Lehrerseminars Hofwil bis 1928 in Zürich Etruskologie und gehörte schon mit seiner Dissertation, aber auch mit Werken wie «Die verhüllten Götter» (1957) oder «Die Etrusker im Spiegel ihrer Kunst» (1969) zu den führenden Vertretern seines Fachs. Nicht zuletzt seines linken politischen Engagements wegen blieb ihm jedoch in der Schweiz eine Professur verwehrt, und als ihn 1948 die Universität Leipzig auf einen Lehrstuhl berief, bekam er kein Visum. Wegweisend waren auch seine Hodler-Biografie von 1915 sowie 1942 seine Darstellung «Der grosse schweizerische Bauernkrieg 1653», die erstmals Schweizer Geschichte «von unten» beschrieb. Als belletristischer Autor publizierte er Dramen – etwa «Menschen ohne Gott», ein Stück, bei dessen Uraufführung er 1932 selbst als Stalin auf der Bühne stand –, Romane und Gedichte, wobei sein literarisches Schaffen eng mit seinen politischen Aktivitäten als einer der konsequentesten Gegner des Faschismus verknüpft war. Das wird am eindrücklichsten sichtbar im Roman «Aurora. Das Antlitz der kommenden Dinge», mit dem die Büchergilde Gutenberg 1935 im Zeichen des Spanischen Bürgerkriegs auf einen Grosserfolg spekulierte. Allerdings schilderte der Roman nicht den damals aktuellen Bürgerkrieg, sondern verknüpfte einen spektakulären Madrider Kriminalfall mit dem gegen die republikanische Regierung gerichteten Aufstand der asturischen Bergarbeiter von 1934. Im Juli 1933 erschoss die Madriderin Aurora Rodriguez ihre achtzehnjährige Tochter Hildegart – ein Wunderkind, das an vier Fakultäten studiert, eine studentische Agitationsgruppe gegründet und sensationelle Schriften zur Sexualfrage publiziert hatte. Hildegart selbst hatte, so Aurora vor Gericht, ihren Tod gewollt, um als «rote Jungfrau» in die Geschichte einzugehen. Mühlestein unterschob Hildegart ein wenig glaubwürdiges Tagebuch und machte Mutter und Tochter zu Vorboten der im Titel angekündigten besseren kommunistischen Menschheit. Den ganzen Fall aber liess er durch den Schweizer Professor Thomas Ritter rapportieren, der sich zuletzt als Hildegarts verschollener Vater entpuppt. Ritter und sein Freund, der deutsche Staatsrechtler Haller, begeistern die spanischen Studenten für deutsche Philosophie und erleben hautnah, wie der studentische Protest langsam in eine offene Revolte übergeht, bis der Funke zündet und es in Asturien im Beisein der befreiten Aurora zum Arbeiteraufstand kommt. Kein Zweifel: der Roman wollte zu viel auf einmal. Revolutionäres Pamphlet, philosophisches Lehrbuch, Krimi und Frauenroman lassen sich auf diese Weise nicht kombinieren. Obwohl das Thema drastisch in die Wirklichkeit hinüberspielte, als Mühlestein 1936 für einen Aufruf zur Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg eine Gefängnisstrafe absitzen musste, blieb der Roman ohne Erfolg und geriet bald einmal so sehr in Vergessenheit, dass sich 1987, als Erich Hackl die Geschichte unter dem Titel «Auroras Anlass» brillant wiederaufnahm, kein Mensch mehr an Hans Mühlestein erinnerte. «Aurora. Das Antlitz der kommenden Dinge» ist aber zumindest deshalb bemerkenswert, weil der Roman in seiner inneren Zerrissenheit etwas vom Wesen des hochbegabten, idealistisch gesinnten, aber von den Zeitläufen schwer mitgenommenen Schriftstellers Hans Mühlestein widerspiegelt.

Beitrag im Bieler Tagblatt vom 31.10.2019

Mühlestein, Hans
*Biel 15.3.1887, †Zürich 25.5.1969, Etruskologe, Schriftsteller und Publizist. M. wurde zunächst Primarlehrer und studierte ab 1907 u.a. in Zürich Geschichte und Philosophie (Diss. über die Etrusker, 1928). Der Erforschung der Etrusker galt auch seine weitere wiss. Tätigkeit als Dozent an der Univ. Frankfurt a.M. (1929-32) und als Verfasser von vielgerühmten Sachbüchern wie »Die Geburt des Abendlandes« (1928), »Die Kunst der Etrusker« (1929), »Die verhüllten Götter« (1957) oder »Die Etrusker im Spiegel ihrer Kunst« (1969). M., der sich in den 20er Jahren unter Einfluss von L. Nelson einer kommunist. Weltsicht zugewandt hatte, leistete auch Bemerkenswertes als soziolog.-marxist. orientierter Hodler-Interpret (»Ferdinand Hodler, 1853- 1918. Sein Leben und sein Werk«, mit G. Schmidt, 1942) sowie als Verfasser des Romans »Der grosse schweiz. Bauernkrieg 1653« (1942), der die schweiz. Geschichte als »Geschichte von unten« darzustellen sucht. Vom belletrist. Werk, das auch Gedichte, Dante-Übersetzungen und Dramen umfasst, wurde der Roman »Aurora. Das Antlitz der kommenden Dinge« (1935) am bekanntesten, der den authent. Fall der Spanierin Aurora Rodriguez behandelt, die 1933 ihre Tochter und kommunist. Agitatorin Hildegart ermordet, um der Bewegung zu einer Märtyrerin zu verhelfen. M. verknüpft die Geschichte mit dem Aufstand der astur. Bergarbeiter von 1934, lässt das Ganze durch den Schweizer Geschichtsprofessor T. Ritter - Auroras verschollenen Vater! - rapportieren, vergibt sich aber die offenbar angestrebte Wirkung für die Sache des revolutionären Spanien durch ein sich immer mehr verwirrendes Handlungsgeflecht. Obwohl die Publikation des Buches mit dem Beginn des Span. Bürgerkriegs zusammenfiel und M. wegen einer Solidaritätserklärung für die republikan. Seite eine vieldiskutierte Gefängnisstrafe absitzen musste, blieb »Aurora« ein längerfristiger Erfolg versagt. … Lit.: Kuster, R.: H.M. Beiträge zu seiner Biographie und zum Roman »Aurora«, Zürich 1984. (Schweizer Lexikon)


Mühlestein, Hans
* 15. 3. 1887 Biel, † 25. 5. 1969 Zürich. - Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Essayist; Etruskologe. Nach dem Gymnasium in Biel u. der Lehrerausbildung in Hofwil u. Bern arbeitete der Uhrmachersohn als Journalist u. wurde von Josef Viktor Widmann in einer Rezension seines Erstlings Ein Buch Gedichte (Bern 1906) begeistert als literar. Hoffnung begrüßt. Ab 1907 studierte M. in Zürich, Jena, Berlin, Göttingen u. Frankfurt/M. Geschichte u. Philosophie, promovierte aber erst 1928 in Zürich mit einer Dissertation über etrusk. Kunst. Hatte er noch in Deutschlands Sendung (Weimar 1914) bzw. Ferdinand Hodler. Ein Deutungsversuch (ebd. 1915) für einen rassistischen dt. Imperialismus plädiert, so wandte er sich während des Kriegs unter dem Einfluß des Philosophen Leonard Nelson zunehmend einem aktivistischen linken Pazifismus zu. Während der NS-Zeit war M., der 1929-1932 einen Lehrauftrag für Kulturgeschichte an der Universität Frankfurt/M. innegehabt hatte, ein vielseitig engagierter Faschismusgegner, geriet jedoch seines kommunistischen Bekenntnisses wegen als Autor u. Wissenschaftler auch in der Schweiz in eine prekäre Situation. Nach 1945 fanden seine Leistungen in Osteuropa, v. a. in der DDR. ein gewisses Echo, während es in der Schweiz nie zu einer wirkl. Rehabilitierung kam. M.s erfolgreichstes literar. Werk war der Roman Aurora. Das Antlitz der kommenden Dinge (Zürich 1935), eine Art polit. Kriminalroman, der einen spektakulären Madrider Justizfall mit dem gegen die republikan. Regierung gerichteten Aufstand der asturischen Bergarbeiter vom Okt. 1934 verbindet. Bedeutender als dieser heterogene Text waren M.s zweite, zusammen mit Georg Schmidt erarbeitete Hodler-Biographie (Ferdinand Hodler, 1853-1918. Sein Leben und sein Werk. Erlenbach 1942. Zürich 1983), die einer modernen, unchauvinist. Hodler-Interpretation wertvolle Impulse vermittelte, u. sein unorthodoxer, »Geschichte von unten« betreibender histor. Roman Der grosse schweizerische Bauernkrieg 1653 (Celerina 1942. Zürich 1977).
WEITERE WERKE: Kosm. Liebe. Mchn. 1914 (L.). - Europ. Reformation. Lpz. 1924 (Ess.). - Die Geburt des Abendlandes. Potsdam/Zürich 1928 (Ess.). - Die Kunst der Etrusker. Bln. 1929 (Ess.). - Der Diktator u. der Tod. Celerina 1933 (D.). - Menschen ohne Gott. Zürich 1934 (D.). - Spanien u. wir. Die Schweiz u. Europa. Basel 1937 (Rede). - Stella oder Zehn Minuten vor Zwölf. Zürich 1937 (D.). - Courbet oder Die Säule schwankt. Celerina 1945 (D.). - Geist u. Politik. Romain Rollands polit. Sendung. Zürich 1945 (Rede). - Die Goldbarren. Celerina 1946 (D.). - Die verhüllten Götter. Mchn. 1957. Neuausg. Biel 1981 (Ess.). - Die Etrusker im Spiegel ihrer Kunst. Bln. 1969 (Ess.).
LITERATUR: Erwin Marti: H. M. In: Aufbruch. Sozialistische u. Arbeiterlit. in der Schweiz. Zürich 1977, S. 149-158. - Robert Kuster: H. M. Beiträge zu seiner Biografie u. zum Roman &Mac221;Aurora&Mac220;. Zürich 1984. (Bertelsmann Literaturlexikon)