Conrad Ferdinand Meyer

Man schreibt das Jahr 1525. Bei Pavia sind Franzosen und Schweizer vom kaiserlichen Heer entscheidend geschlagen worden. Der Papst, Venedig, Florenz und Mailand schliessen unter Frankreichs Auspizien einen Militärpakt. Als Anführer aber haben sie niemand anderen als Pescara, den siegreichen Feldherrn des Kaisers, ausersehen. Dieser jedoch, durch eine verborgen gehaltene Verletzung vom Tode gezeichnet, ist für die Versuchung nicht mehr anfällig, ja er hält dem Kaiser selbst dann noch die Treue, als ihn seine Gemahlin, die Dichterin Vittoria Colonna, im Auftrag des Papstes mit flammenden Worten für Italien begeistern will. Wie befohlen, fährt er seine Truppen gegen Mailand und bricht, als der Sieg errungen ist, im Kastell der Sforza tot zusammen.
Weil sie ein plastisches Bild der italienischen Renaissance entwirft und als unerreichtes Muster einer historischen Novelle gilt, ist anhand der Versiichung des Pescara (1887) Generationen von Schülern das Verhältnis von Dichtung und Geschichte exemplifiziert und der Autor Conrad Ferdinand Meyer nur allzuoft gründlich verleidet worden. Dabei ist dieses gewaltige Stück Literatur, sofern man in Beziehung dazu setzt, was wir über C. F. Meyer wissen und was er selbst zu seiner Novelle geäussert hat, nichts weniger als ein erschütterndes Paradigma für seine eigene höchst rätselhafte Existenz.
»Der historischen Novelle bediene ich mich«, schrieb er 1888 einem Freund, »einzig und allein, um meine Erfahrungen und persönlichen Gefühle einzubringen. Ich ziehe sie dem Zeitroman vor, weil sie mich besser maskiert und den Leser stärker auf Distanz hält.« Wie die letzten Wochen seines Pescara, so standen die knapp zwanzig Jahre von Meyers dichterischer Produktivität von Anfang an im Zeichen des Todes, der sein Œuvre wie ein allgegenwärtiges Leitmotiv begleitet. Wie Pescara stand auch Meyer »ausserhalb der Dinge« und blieb, anders als etwa Gottfried Keller, in den aktuellen Auseinandersetzungen seiner Zeit stets nur Zuschauer und aristokratischer Outsider. Unglücklich, aber reich verheiratet, arbeitete er, von Zeit und Umwelt hermetisch abgeschlossen, mit unfassbarer Sorgfalt und Akribie an seinem Werk, und niemand ausser ihm ahnte, wie wenig Zeit ihm dafür zugemessen blieb.
Aber nicht nur der Dichter selbst ist im Pescara insgeheim porträtiert, auch der Jugendgeliebten Constance von Rodt (1839-1859), mit der er 1853, als sie vierzehn war, so gut wie verlobt gewesen ist, setzte Meyer ein diskretes Denkmal: Julia Dati, das jugendliche Opfer kriegerischer Verrohung, ist deutlich mit ihren Zügen versehen! Im Pescara, seit nunmehr hundert Jahren als Meyers bedeutendste Novelle anerkannt, ist die Hommage besser versteckt als im Gedicht An eine Tote, das ebenfalls der kleinen Waadtländerin gilt und das der Dichter 1894, bereits nicht mehr Herr seiner selbst, auf Drängen seiner eifersüchtigen Gattin aus den Gesammelten Gedichten eliminieren musste ...


Die Versuchung des Pescara ist u. a. als Reclam-Band 6954 greifbar.
(Literaturszene Schweiz)