Klaus Merz * 1945

Von der «knappsten Fassung des beinahe Unfassbaren» sprach Traugott Vogel, als er 1967 in seiner «Bogen»-Reihe unter dem Titel «Mit gesammelter Blindheit» erstmals Gedichte des am 3. Oktober 1945 in Aarau geborenen Klaus Merz präsentierte. Merz war damals Lehrer in Unterkulm, und das sanfte aargauische Zweistromland zwischen Wyna und Suhre war und ist nicht nur sein biografisches, sondern auch sein literarisches Biotop: Menziken, wo er als Sohn eines Bäckermeisters zusammen mit seinem behinderten, aber ebenfalls literarisch begabten Bruder Martin aufwuchs und wo er von der gleichen Lehrerin gefördert wurde wie der drei Jahre ältere Hermann Burger, Unterkulm, wo er seit vielen Jahren lebt, die Dörfer und Weiler der Umgebung, wo Figuren wie der Argentinier aus der gleichnamigen Novelle von 2009 oder jener Thaler aus der Erzählung «Los» (2005) zu Hause sein könnten, der in den Bergen sich selbst abhandenkommt. In seinen Gedichten, aber auch in der Prosa ist Merz lebenslang auf der Suche nach jener «knappsten Fassung» geblieben, von der Vogel sprach. Anders als andere hat er aber nicht versucht, eine unverbrauchte Sprache zu finden, sondern hat sich der vorgefundenen gestellt, sie hinterfragt und ihr eine neue Eindringlichkeit abgerungen. «Es ist ja nicht um die Worte / herumzukommen / diese buntscheckigen Lügenhunde / zähnefletschend und sanft / lückenlos-lückenhaft», erkannte schon der Achtzehnjährige, und noch in seinem bisher letzten Gedichtband, «Aus dem Staub» von 2010, macht Merz deutlich, was für eine Kühnheit es für ihn noch immer ist, Welt und Erfahrung in jedermann geläufigen Worten zu spiegeln: «Und manchmal verliess / mich die Kühnheit / auf einem Wort zu bestehen / wie Wolke und Wald.» Es habe ihn «immer interessiert, was nicht auf Anhieb sichtbar ist», gab Merz einmal zu Protokoll, und es dauerte lange, bis seine schmucklose Prosa und seine aufs Höchste verdichtete Lyrik über Eingeweihte hinaus Anerkennung fanden. Dass inzwischen Publikationen wie die Erzählungen «Adams Kostüm», das Venedig-Buch «Löwen Löwen» oder die Novelle «Der Argentinier» breiteste Beachtung finden und dass beim Innsbrucker Haymon-Verlag eine auf sieben Bände angelegte Werkausgabe am Entstehen ist: All das wäre undenkbar ohne den Durchbruch zum Erfolg, der Merz 1997 mit «Jakob schläft» gelang. Auf 22 kurze Kapitel verteilt erzählt jener Roman von einer Familie, in der «Kranksein den Vorrang» hat, von einem epileptischen Vater, einer depressiven Mutter, einem körperlich behinderten Bruder und von einem Ich-Erzähler, der vom Grabkreuz eines weiteren, bei der Geburt verstorbenen Bruders lesen lernt und der diesen Toten als Bruder Jakob wie einen Schutzengel mit durch sein Leben trägt. Nicht nur im Kind, das der Erzähler einmal war, in allen Figuren ist der Tod ständig präsent, und gerade weil das so ist, wird in ihnen allen eine elementare Lebensfreude freigesetzt. Eins zu eins, als Autobiografie des Autors, sollte man «Jakob schläft» aber nicht lesen. Es ist, wie alle seine Bücher kongenial illustriert von Heinz Egger, ein Destillat der Themen und Motive, die ihn lebenslang beschäftigten, eher ein Gedicht als ein Roman, und immer wenn einen die Rührung ankommt, ist an die Warnung zu denken, die Albert Hauser 1994 formulierte: «Merz ist ein heimlifeisser Autor. Aufgepasst, dass wir ihm nicht in die Falle der Ahnungslosigkeit laufen!»