Mariella Mehr *1947

«La Lupa di Lucignano» hat eine italienische Zeitung sie kürzlich genannt, die im toskanischen Städtchen dieses Namens lebende, fast ganz erblindete Schriftstellerin Mariella Mehr, die in der Schweiz als «Zigeunerhure» beschimpft und aus dem fahrenden Zug gestossen worden war. 1998 aber ist sie für kurze Zeit aus dem Exil nach Basel gefahren, um da einen Ehrendoktor für ihr Engagement in der Bekämpfung der Fremdenfeindlichkeit, für ihre aufklärende Tätigkeit im Zusammenhang mit dem Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» und für ihr literarisches Werk entgegenzunehmen, in dem sie immer wieder neu die Unterdrückung von Minderheiten und die Gewalt gegen Wehrlose thematisiert hat. «Steinzeit», das Debüt von 1981, ist ein erschütterndes document humain. Es sind die schubweise hervorbrechenden Erinnerungen des Mädchens Silvia, das seine Kindheit als Steinzeit empfand, weil es sich damals noch nicht wehren konnte. Und die schockierende Wirkung, die diese Kindheit einer «Versorgten», vielfach Geschändeten und Gezüchtigten auslöst, wird nicht geringer, wenn man weiss, dass es der Autorin genau so erging: Am 27. Dezember 1947 in Zürich als Kind einer Jenischen geboren, «Fremdplatzierung» durch Pro Juventute, sexueller Missbrauch im Kleinkindalter, psychiatrische Klinik, Pflegefamilie, Missbrauch durch den Pflegevater, Kinderheim, Internat, mit achtzehn Jahren schwanger, Strafanstalt Hindelbank, Geburt des Sohnes in der Strafanstalt, Wegnahme des Sohnes durch Pro Juventute, Selbstmordversuch, Klinikaufenthalt und schliesslich Herausarbeiten aus dem Trauma mit dem Schreiben des Erstlings; einem Buch, das nicht bloss das unverstellte Bekenntnis einer Misshandelten, sondern ein erstes Zeugnis jenes genuinen literarischen Talents war, das Mariella Mehr in einer ganzen Reihe von Büchern, Theaterstücken und Gedichten unter Beweis stellen sollte. So im Roman «Zeus oder der Zwillingssohn» (1994), in dem der Göttervater in der Gestalt eines Patienten in der Anstalt Waldau Aufnahme findet und von einem seiner weiblichen Opfer, als wolle es sich rächen für Millionen andere, brutal zerfleischt und kastriert wird. In «Daskind» (1995), dem Roman über ein vielfach gemartertes und beleidigtes, sich am Ende gegen das Unrecht aufbäumendes Wesen, zu dem die «NZZ» schrieb: «Wenn Prosa krank machen könnte: Dieses Buch könnte ganze Krankenhäuser füllen.» In «Brandzauber» (1998), dem erzählerischen Requiem auf Anna und Franziska, ein jenisches und ein jüdisches Mädchen, die zusammen in einem Internat ein verschworenes Duo bilden und zuletzt auf eine Weise den Tod zwischen sich stellen, «als wären sich zwei Feuerengel begegnet». Oder in «Angeklagt» (2002), der aufwühlenden Beichte der Mörderin und Brandstifterin Kari Selb. Nicht weniger eindringlich gelingt es Mariella Mehr auch im 1986 in Bern uraufgeführten Theaterstück «Akte M. Xenos ill.* 1947 – Akte C. Xenos ill.* 1966», das den Titel ihres Dossiers beim Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» trägt und das sie auch ins Zentrum des gleichnamigen Buches gestellt hat, die Verstörungen aufzuzeigen, die eine rassistische «Fürsorgepolitik» nicht nur in ihr, sondern in unzähligen Jenischen angerichtet hat. Ein Thema, das sie auch in ihrem italienischen Exil bis zuletzt nicht ruhen lassen wird und das immer wieder aufleuchtet in jenen Gedichten, die das letzte, aber vielleicht Erschütterndste sind, was sie ihrem nach wie vor wachen Geist abzuringen vermag: «Zukunft? / Sie spricht mich nicht los, / mich Schiefgeborene. / Komm, sagt sie, / der Tod ist eine Wimper / am Lid des Lichts.»