Hugo Marti 1893–1937

Im Mittelpunkt des Norwegen-Romans «Ein Jahresring» steht eine neunzehnjährige Frau, der Rolf, ein Schriftsteller, zufällig in einem Osloer Pfarrhaus begegnet ist. Ohne es zu wissen, erlangt sie so viel Gewalt über den hoffnungslos in sie Verliebten, dass er sich, um sie zu vergessen, überstürzt mit einer anderen verlobt und am Ende verzweifelt in einer verschneiten Waldhütte sein Schicksal beklagt. Als ein Freund ihn da besucht und fragt, wie das Mädchen denn heisse, antwortet er: «Ich kann es nicht sagen. Ich habe seinen Namen nie mit lauter Stimme ausgesprochen.» Als Hugo Marti, seit 1921 Literaturredaktor beim Berner «Bund», im März 1924 in Pura TI mit 31 Jahren den Roman «Ein Jahresring» schreibt, ist die mysteriöse Norwegerin seit zwei Jahren seine Frau und hält ihm zum Arbeiten den Rücken frei, indem sie mit dem zu Gast weilenden Redaktionskollegen Ernst Schürch stundenlang durch das Malcantone stapft. Elsa Lexow-Breck hiess sie als Mädchen, und die erste Begegnung fand im Sommer 1917 statt, als Marti mit den ihm anvertrauten rumänischen Fürstenkindern in einem Dorf bei Oslo gestrandet war. Nach einer Phase der Zurückhaltung und nachdem Marti im Eilzugstempo sein Studium abgeschlossen hatte, gab Elsa ihr Jawort, und die Liaison ist literarisch nicht nur im «Jahresring», sondern auch in den zart-poetischen «Birkenliedern» gespiegelt. Erlebte, beseelte Landschaften machen überhaupt das Unverwechselbare am literarischen Werk dieses Autors aus, den die Zeitgenossen vor allem als weltoffenen Redaktor und Förderer junger Talente schätzten. So evoziert «Eine Kindheit» (1936) auf wehmütige Weise Liestal und das Baselbiet, wo Marti als Sohn eines Obersten und einer früh verstorbenen Mutter aufwuchs, ehe die Familie 1907 nach Bern zog, wo der Vater noch im gleichen Jahr starb und er und seine Geschwister von einer tüchtigen Stiefmutter aufgezogen wurden. Basel liefert auch die Atmosphäre zu den Legenden «Das Kirchlein zu den sieben Wundern», die Marti 1914 für einen sterbenden Freund schrieb. «Das Haus am Haff» (1922) wiederum macht auf halluzinatorische Weise die Weite und Grösse der ostpreussischen Landschaft fassbar, die Marti 1914 als Student in Königsberg lieben lernte. Im «Rumänischen Intermezzo» (1926) und in den Novellen «Rumänische Mädchen» (1928) dagegen ist die Zeit dokumentiert, die er 1916 als Hauslehrer des Fürsten Cantacuzino im rumänischen Sinaia zubrachte und die ihn auch mit erschütternden Szenen beim Einmarsch deutscher Truppen konfrontierte. Die letzte Landschaft, die Marti inspirierte, ist jene von Davos. Seit 1928 war er tuberkulosekrank, und während eines Kuraufenthalts entstand 1934 das «Davoser Stundenbuch», in dem er das unerbittliche Schicksal der von der «Weissen Pest» Befallenen so locker, liebevoll und ironisch darstellte, dass es auch Gesunde unmittelbar berührte. «Ihre Sprache – ich bin gelb vor Neid geworden», gestand Friedrich Glauser, der allerdings nicht ahnen konnte, wie wörtlich Aussagen wie die folgenden gemeint waren: «Zwischen uns und dem Leben steht die Krankheit. Die Absonderung. Die Einsamkeit. Der Tod.» Am 20. April 1937 erlag Hugo Marti 44-jährig in Davos seinem Lungenleiden. Das namenlose Osloer Mädchen von 1917 aber sollte ihn, in einer wunderlichen Mischung von Berndeutsch und Norwegisch treu die Erinnerung an ihn pflegend, ganze 63 Jahre überleben.

Hugo Marti

Wir sind wohl einige in der Schweiz, die Hugo Marti nicht vergessen werden, denn er war unser Bruder, und wir sind ihm dankbar.« Von Friedrich Glauser stammen diese Zellen, und sie waren im Namen jener zahlreichen Schweizer Autoren gesprochen, für die sich Hugo Marti in den 15 Jahren seiner Tätigkeit als Bund-Redaktor in seiner vornehm-diskreten, aber menschlich antelinehmenden Art eingesetzt hatte. Sein Tod im Alter von erst 43 Jahren hatte die Schweizer Literatur am 2o. April 1937 eines Vermittlers beraubt, wie er als mässigende, weltoffene Instanz gerade in der damals beginnenden Zeit der geistigen Landesverteidigung dringend nötig gewesen wäre. »Er war das Ohr, zu dem wir sprachen, er war der Mund, der für uns sprach. Nun er ging, bleibt vieles ungehört«, notierte Kurt Guggenheim bei der Nachricht von seinem Tode ahnungsvoll in sein Tagebuch.
So verdienstvoll und unersetzlich es war: Hugo Martis redaktionelles Wirken als Korrelativ zu Otto von Greyerz und dem elitären »Zürcher Olymp« ist heute nur noch von historischem Belang. Was der Zeit dagegen standgehalten hat und auch nach fünfzig Jahren noch unverstaubt lebendig wirkt, ist sein schmales schriftstellerisches Œuvre, insbesondere die Romane Das Haus am Haff (1922) und Einjahresring (1925), das Davoser Stundenbuch von 1935 und ein paar meisterliche kürzere Erzählungen. Im Unterschied zu vielen seiner schreibenden Kollegen hat Marti seine Stellung als Redaktor und Rezensent niemals dazu benützt, um für sein eigenes Werk zu werben - mit dem Effekt, dass jedermann den Zeitungsmann rühmte und niemand den Dichter las. Dabei zählen die beiden Romane Das Haus am Haff und Ein Jahresring in ihrer verhalten-poetischen, mehr bloss andeutenden als explizit darstellenden Schreibweise mit Sicherheit zu den gelungensten und ergreifendsten Liebesgeschichten der Schweizer Literatur. Dass ihre Schauplätze nicht hierzulande, sondern in den grossräumigen Landschaften Ostpreussens bzw. Norwegens angesiedelt sind, sichert diesen Romanen, die jeder für sich auch in Sachen Sprache und Stil weit über die vielgelesenen Produkte der damaligen Schweizer Heimatkunst hinausragen, jene ganz besondere Atmosphäre von Weite, Offenheit und sehnsüchtiger Melancholie, die für ihren Verfasser so charakteristisch ist.
Übrigens: die versteckte Quintessenz des Romans Ein Jahresring, der Umstand nämlich, dass die merkwürdige Liebeskrankheit des Protagonisten Rolf von Anfang an einem Mädchen gilt, das in der Geschichte erst ganz zuletzt und auch dann namenlos und nur andeutungsweise vorkommt, obwohl es eigentlich die Hauptrolle spielt - dieses literarische Geheimnis enthüllt einem seinen Zauber erst, wenn man weiss, dass Marti damit seiner norwegischen Frau, der Osloer Pfarrerstochter Elsa Lexow-Breck, eine poetische Liebeserklärung gemacht hat.


Als Nr.20 von Reprinted by Huber erscheint im Herbst 2003: Hugo Marti, «Die Tage sind mir wie ein Traum». Das erzählerische Werk. Herausgegeben und mit einem ausführlichen illustrierten biographischen Nachwort versehen von Charles Linsmayer. Huber-Verlag, Frauenfeld 2004, 584 Seiten, Fr. 48 (Literaturszene Schweiz)

Marti, Hugo

*Basel 23.12.1893, †Davos 20.4.1937, Redaktor und Schriftsteller. Nach der Kindheit in Basel, Liestal und Bern studierte M. ab 1912 zunächst Jurisprudenz in Bern, Berlin und Königsberg, ging dann aber 1913 zur Germanistik über und beendete sein Studium 1921 nach einem mehrjährigen Aufenthalt als Hauslehrer in Rumänien und Norwegen mit einer Diss. in Bern. Von 1922 bis zu seinem frühen Tod verwaltete M., der mit der Norwegerin Elsa Lexow-Breck verheiratet war, die Feuilleton-Redaktion des Berner »Bund« und schuf sich dabei einen Namen als brillanter, allem Neuen aufgeschlossener, einfühlsamer Literaturkritiker und Förderer junger Talente (K. Guggenheim, F. Glauser u.a.). Sein eigenes literar. Werk, das auf eindringl. Weise die Erfahrung von zumeist fremden Landschaften mit den Themen Liebe und Tod in Beziehung setzt, umfasst den Ostpreussenroman »Das Haus am Haff« (1922), die in Norwegen spielende melancholisch-verträumte Liebesgeschichte »Ein Jahresring« (1925), die Erzählungen »Rumän. Intermezzo« (1926) und »Rumän. Mädchen« (1928), den Baselbieter Legendenzyklus »Das Kirchlein zu den sieben Wundern« (1922) sowie als bewegendes Vermächtnis den von der zeitgenöss. Kritik als »Zauberberg in einer Nuss« gefeierten, die Welt der Davoser Sanatorien spiegelnden Erzählzyklus »Davoser Stundenbuch« (1935). Obwohl ein genuines lyr. Talent, publizierte M. ausser der mytholog. Versdichtung »Balder« (1923) nur einen Bd. Gedichte: den ostpreuss. und norweg. Erlebnisse evozierenden Zyklus »Der Kelch« (1925). Erst nach seinem Tod wurde bekannt, dass er sich auch hinter dem »Bund«-Kolumnisten Bepp verborgen hatte, der für seine pfiffig geschriebenen, hintergründigen Glossen berühmt war. … Lit.: Günther, C.: H.M., Mensch und Dichter, Bern 1938; Linsmayer, C.: H.M., in: H.M., »Das Haus am Haff«/»Davoser Stundenbuch«, nhg. als Bd. 10 von »Frühling der Gegenwart«, Zürich 1981/Frankfurt a.M. 1990. (Schweizer Lexikon)



Marti, Hugo

Auch: Bepp, * 23. 12. 1893 Basel, † 20. 4. 1937 Davos. - Erzähler, Lyriker, Essayist.

Der Sohn eines Bankkaufmanns u. einer Pfarrerstochter verlebte seine Kindheit in Basel, Liestal u. Bern, wo er nach dem frühen Verlust der Eltern ab 1912 auf Wunsch seiner Stiefmutter Jurisprudenz studierte. 1913/14 setzte er die Studien in Berlin u. Königsberg fort u. verbrachte mehrere Monate auf Gut Viehof bei Labiau an der Deime/Ostpreußen, wo sein Romanerstling Das Haus am Haff (Basel 1922. Zürich 1981. Ffm. 1990) spielt. Nach Bern zurückgekehrt, wechselte er im Sommer 1914 zur Germanistik über, reiste aber vor Studienabschluß, im Spätsommer 1915, als Hauslehrer des Fürsten Cantacuzino nach Rumänien - ein Aufenthalt, den er später u. d. T. Rumänisches Intermezzo (Bern 1926) literarisch gestalten sollte. Als er die ihm anvertrauten Kinder in die Schweiz in Sicherheit bringen wollte, mußte M. wegen des U-Bootkriegs 1917 für zweieinhalb Jahre in Norwegen bleiben. Auch diesem Land, wo er seine spätere Frau Elsa Lexow-Breck kennenlernte, hat M. mit dem atmosphärisch dichten, an Hamsun erinnernden Liebesroman Ein Jahresring (Basel 1925) aus wehmutsvoller Erinnerung heraus eine bewegende Hommage gewidmet. 1921 schloß M. in Bern seine Studien mit der Promotion ab u. wurde nach einem Zwischenspiel beim »Pestalozzi-Kalender« ab März 1922 Feuilletonredakteur des Berner »Bund«. In dieser Funktion entfaltete er in den folgenden Jahren eine für die Deutschschweizer Literatur jener Zeit außerordentlich förderl. Tätigkeit u. wurde zur krit. Instanz für viele junge Talente wie Friedrich Glauser oder Kurt Guggenheim.
Sein eigenes, von formaler Eleganz u. themat. Vielfalt geprägtes, nach damaligem Empfinden »unschweizerisches« literar. Werk stellte er dabei bewußt in den Hintergrund. Abgesehen vom Erzählband Das Kirchlein zu den sieben Wundern (Basel 1922), einem in der Gegend von Basel angesiedelten Legendenzyklus, den Jugenderinnerungen Eine Kindheit (Bern 1936) u. dem ergreifend-persönl., vom Tod vorgezeichneten Davoser Stundenbuch (Bern 1935. Zürich 1981. Ffm. 1990) spiegeln alle seine Werke eine intensive, tiefgreifende Begegnung mit einem anderen Land u. dessen Bewohnern. Das gilt nicht zuletzt auch für seinen einzigen Gedichtband Der Kelch (Basel 1925), der mit dem Zyklus Haff und Heide nochmals die Verzauberung der ostpreuß. Landschaft faßbar macht, während die sieben Birkenlieder wohl zum Schönsten gehören, was in dt. Sprache über Norwegen geschrieben worden ist.

WEITERE WERKE: Balder. Eine Dichtung. Basel 1923. - Rumänische Mädchen. Bern 1928 (N.n). - Notizbl. v. Bepp (M.s Pseud. beim «Bund»). Bern 1928. 1942. 1969. 1987. - Die Herberge am Fluß. Bern 1931 (Schausp.). - Rudolf v. Tavel. Bern 1935 (Biogr.). - Der Jahrmarkt im Städtlein. Basel 1937 (3 E.en). - H. M. u. Lucian Blaga: Im Zeichen der Freundschaft (enthält «Rumän. Intermezzo», «Rumän. Mädchen» Briefw. mit L. Blaga). Bukarest 1985.

LITERATUR: Carl Günther: H. M. Mensch u. Dichter. Bern 1938. - Charles Linsmayer: H. M. Nachw. zu «Das Haus am Haff» u. «Davoser Stundenbuch». Zürich 1981. Ffm. 1990, S. 207-247.
(Bertelsmann Literaturlexikon)