Hugo Loetscher 1929–2009

Als Bub träumte er davon, Missionar zu werden. Und zwar nicht nur Missionar, sondern auch Märtyrer. Denn: «So wäre mir ein Seitenaltar sicher gewesen!» Die katholische Zürcher Arbeiterfamilie, in die hinein Hugo Loetscher am 22. Dezember 1929 geboren wurde, stammte aus dem luzernischen Escholzmatt, einer Gegend, in der, wie es später im Roman «Der Immune» heissen wird, «die Frauen eine Kuhtemperatur im Leib haben und wo es üblich ist, im Stall die Jungfernschaft zu verlieren.» Der Zürcher «Secondo» wurde aber weder Bauer noch Missionar, sondern eroberte sich vom proletarischen Aussersihl aus mittels Gymnasium und Universität jenes urbane Zürich, für das er bis hin zu seinem späten Essayband «Lesen statt Klettern» als brillanter Intellektueller und Weltautor mit Hang zu Groteske und Selbstironie stehen würde. Prägend wurde der Umgang mit den Franzosen, die er 1950/51 in Paris zur Vorbereitung seiner Dissertation «Der Philosoph vor der Politik» las: Valéry, Gide, Sartre, Camus, aber auch Zola und Voltaire. «Frankreich hat meine Sensibilität geweckt», gab er 1963 zu Protokoll, und dem elegant-weltmännischen Literaten mit der obligaten Zigarette und den träfen Repliken merkte man die Pariser Schule ebenso an wie seinen frühen Romanen den Umgang mit den Figuren und Konstellationen von Camus’ Prosa und des Theaters des Absurden. Sein erster Roman, «Abwässer» von 1963, trieb mit Zürich eine Art Exorzismus. Zum kafkaesken anonymen System verdichtet, wurde die Stadt zu einem Ort der ideologischen Schaumschlägerei, der den Bezug zur elementaren Realität längst verloren hat. Sind «Abwässer» ein ökologisches Buch avant la lettre, so nimmt «Die Kranzflechterin» von 1964, das unsentimentale Bild einer Zürcher Proletarierin, wichtige Facetten der weiblichen Emanzipationsliteratur vorweg. «Noah» von 1967 lässt die Wohlstandseuphorie in die Sintflut münden, und «Der Immune» von 1975, der als Loetschers Meisterwerk gelten muss, zeigt am Beispiel der Titelfigur auf, was für Strategien der Immunisierung ein aufgeklärter Zeitgenosse und Intellektueller entwickeln musste, um das zweite Drittel des 20. Jahrhunderts unangefochten überstehen zu können. Gefragt, wo seine Wurzeln lägen, meinte Loetscher: «Ich habe keine Wurzeln. Ich habe Füsse. Um wegzugehen.» Was besagt, dass Heimat für ihn nie etwas Endgültiges oder Isoliertes, sondern immer Basis und Ausgangspunkt für den Aufbruch in die Welt war, für die unzähligen Reisen und Aufenthalte, aus denen Bücher wie das todestrunkene AmerikaBuch «Herbst in der Grossen Orange» von 1982 oder die brasilianische Begegnung «Wunderwelt» von 1979 hervorgingen – Letztere in der Art und Weise, wie da einem tot angetroffenen kleinen Mädchen das nicht gelebte Leben mit literarischen Mitteln doch noch geschenkt wird, Loetschers wohl schönste Schöpfung überhaupt. Wenige Tage nach seinem Tod am 18. August 2009 erschien «War meine Zeit meine Zeit», das Buch, in dem Loetscher sein Leben auf eloquent-virtuose Weise den Flüssen der Welt entlang erzählt. Noch berührender, persönlicher aber ist der Gedichtband «Es war einmal die Welt» von 2004. «Der eigenen Asche nachgestreut» heisst da ein Gedicht, in dem erkennbar wird, wie einsam Loetscher in seinen letzten Jahren war und wie sehr er sich auch angesichts des Todes noch vergeblich nach Zärtlichkeit sehnte. «Leiht dem Toten», heisst es da, «was der Lebende vermisst: eine Hand!»