Hermann Kesser

Er sei »ein Ausländer auf der Welt gewesen«, heisst es irgendwo über Felix Engelbrecht, die heimliche Hauptfigur von Hermann Kessers meisterlicher Monolog-Novelle Schwester (1926). Eine Kennzeichnung, die Kesser auch von sich selbst gesagt haben könnte. 1880 in München geboren, lebte er seit 1903 dauernd in der Schweiz und übte als Journalist eine bedeutsam geistige Vermittlertätigkeit zwischen dem Reich und unserem Land aus. Seinen Schweizer Wohnsitz behielt er aber auch bei, als Kesser ab 1912 in Deutschland spektakuläre Erfolge als Erzähler und Dramatiker einzuheimsen begann. Bereits der literarische Erstling Lukas Langkofler, eine historische Erzählung, die den Blutrausch der Pariser Bartholomäusnacht mit eindringlicher Sprachkraft nachzeichnet, wurde 1912 zur Sensation.
Im Roman Die Stunde des Martin Jochner hinterfragte er 1916 als einer der ersten die fatale Kriegsbegeisterung von 1914, während das Prosastück Die Peitsche 1917 in historischem Gewand, aber mit modernsten expressionistischen Mitteln den Sturz der deutschen Monarchie vorausnahm. Auch in der hektischen ersten Nachkriegszeit betrieb Kesser, obwohl er stets an vorderster Front stand, wenn es galt, neue Stilmittel auszuprobieren, mit Werken wie dem Radio-Monolog Strassenmann, den Dramen Rotation, Die Brüder und anderen mehr seine Schriftstellerei nie als Selbstzweck, sondern stets als expressiv-kämpferisches Mittel, »das Gesicht der Zeit mitzubestimmen«.
»Linke Tendenz« nannte man das in gebildeten bürgerlichen Kreisen damals abschätzig, und als Vertreter dieser Richtung stiess Kesser, nachdem er sich 1933 wie so viele andere definitiv auf die Schweiz hatte eingrenzen müssen, in seiner Wahlheimat auf wenig Gegenliebe, obwohl er 1934 endlich auch dem Pass nach ihr Bürger werden konnte. Zwar gelang ihm 1938 in Basel, Zürich und Bern mit Talleyrand und Napoleon nochmals ein vielbeachteter Theatererfolg. Doch dann setzte er sich, weil seine Mittel zur Neige gingen und er nicht ins Gerangel um die helvetischen Kultursubventionen einsteigen wollte, mit seiner jüdischen Frau zusammen nach Amerika ab, wo er mehr Echo auf seine Arbeiten erhoffte. Aber das Exil brachte ihm nicht neue Schaffenskraft, sondern lähmende Stagnation, und als Kesser 1945 in die Schweiz zurückkehrte, war er als Autor so gut wie vergessen. Schwer krank, bemühte er sich mit Hilfe seiner tapferen Frau um Unterstützung für eine Werkausgabe, die seinen Ruhm neu begründen sollte. Doch er starb am 4. April 1952 in Basel, ohne dass sich die Pläne hatten realisieren lassen. Sein Werk war zuwenig schweizerisch, zu international, zu sozialkritisch, zu modern, um in der damaligen helvetischen Enge Anklang zu finden.
So blieb Kesser für unser Land bis zuletzt »ein Ausländer auf der Welt«, und erst von heute aus lässt sich allmählich erkennen, dass diese Bezeichnung angesichts der zu jener Zeit erfolgreichen Schweizer Literaturproduktion so etwas wie einen Ehrentitel bedeutet haben könnte.
(Literaturszene Schweiz)

Kesser, Hermann

Eigtl. Hermann Kaeser, *München 4.8.1880, †Basel 5.4.1952, Journalist und Schriftsteller. Nach einem Philologiestudium an der Univ. Zürich (Dr. phil. 1903) und einem Jahrzehnt Lehrerfahrung als Dozent für Musikgeschichte am dortigen Konservatorium verliess der Sohn eines Münchner Kunsthändlers seine schweiz. Wahlheimat wieder und lebte als freier Schriftsteller in Deutschland. Als Autor war er nach ersten Erfolgen mit »Lukas Langkofler« (E., 1912) und »Das Verbrechen der Elise Geitler« (E., 1912) 1917 mit der spektakulären, hoch expressiven Erzählung »Die Peitsche« zu Berühmtheit gelangt: Der röm. Wagenlenker Maro gibt mit einem überraschenden Peitschenschlag ins Gesicht des Kaisers das Signal zum Aufstand der Massen. Der Text wurde wie der bereits früher entstandene Zeitroman »Die Stunde des Martin Jochner« (1917) polit. gedeutet und als literar. Vorwegnahme der dt. Revolution von 1918 verstanden. In den 20er Jahren wandte sich K., der zunächst als Exponent des Expressionismus gegolten hatte, zunehmend sozialen Problemen zu und verstand seine polit. links engagierte Schriftstellerei als ein Mittel, »der Zeit das Gesicht mitzubestimmen«. 1933 emigrierte K. in die Schweiz, deren Bürger er 1934 wurde und wo ihm 1938 mit »Talleyrand und Napoleon« ein grosser Theatererfolg glückte. Der Enge des helvet. Kulturbetriebs suchte er durch die Übersiedlung in die USA zu entkommen, kehrte aber 1945 resigniert, krank und mittellos in die Schweiz zurück, wo sich auch die Hoffnungen auf eine Werkausgabe zerschlugen. … Lit.: Schumann, T.B.: H.K., in: Plädoyers gegen das Vergessen, Berlin 1979. (Schweizer Lexikon)



Kesser, Hermann

Eigentl.: H. Kaeser, * 4. 8. 1880 München, † 5. 4. 1952 Basel. - Erzähler, Dramatiker, Essayist.

Der Sohn eines Münchner Kunsthändlers promovierte 1903 in Zürich zum Dr. phil., unterrichtete Musikgeschichte u. Ästhetik am Zürcher Konservatorium, ging jedoch bald zum Journalismus über u. wurde zu einem der kompetentesten Interpreten schweizerischer Themen in der dt. Presse. Als Schriftsteller debütierte er mit den beiden Erzählungen Lukas Langkofler u. Das Verbrechen der Elise Geitler (Ffm. 1912). Vor allem Lukas Langkofler, eine intensive, leidenschaftl. Schilderung der Pariser Bartholomäusnacht von 1572, zeugte erstmals für K.s Begabung, spektakuläre, außergewöhnl. Ereignisse packend in Sprache zu bannen. Einen Höhepunkt erfuhr diese »dynamische Epik« in K.s berühmtester Erzählung, Die Peitsche (Ffm. 1917. Frauenfeld 1919. Ffm. 1926), mit der er, obwohl in histor. Gewand, direkt auf die bevorstehende dt. Revolution verwies. Maro, ein Wagenlenker, schlägt in einer unerhört expressiven, spannungsgeladenen Szene dem röm. Kaiser die Peitsche ins Gesicht u. gibt damit das Signal zum Aufstand der Massen. Ebenso prophetisch-visionär mutet der Roman Die Stunde des Martin Jochner (entstanden 1914. Erstdr. Lpz. 1917. Bln. 21930) an, die Beschreibung der hekt. Atmosphäre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, seismographisch genau aufgezeichnet von einem Journalisten, dem der Krieg unausweichlich erscheint. 1919 glaubte K. noch, »am neuen Anfang der Menschheit« teilzuhaben, dann aber wandte er sich immer stärker einer sozial engagierten, pragmat. Tendenz zu (vgl. die Erzählungen Straßenmann u. Schwester. Beide Ffm. 1926) u. empfand den Expressionismus bereits 1930 als »flammenden Kurzschluß, hergestellt von den Ereignissen«. Auch als Dramatiker nahm K. in Stücken wie Die Brüder (Bln. 1921) oder Rotation (Wien 1931) aus dezidiert linker Position heraus zu sozialen Problemen Stellung. 1933 verließ er Deutschland, wo er nach 1920 gelebt hatte, u. siedelte ganz in die Schweiz über, deren Bürger er 1934 wurde. Während des Kriegs lebte er, literarisch ohne Fortüne, in den USA. In seinen letzten Lebensjahren versuchte er von der Schweiz aus vergeblich ein Comeback in die Wege zu leiten.

WEITERE WERKE: Vom Chaos zur Gestaltung. Ffm. 1925 (Ess. u. L.). - Musik in der Pension. Bln. 1928 (R.). - Talleyrand u. Napoleon. Zürich 1938 (D.). - Das Verbrechen der Elise Geitler u. a. E.en. Hg. Bernd Jentzsch. Nachw. v. Thomas B. Schumann. Olten 1981.
(Bertelsmann Literaturlexikon)