Silvio Huonder * 1954

Daniel von Aarburgs Film «Camenisch – Mit dem Kopf durch die Wand» stellte 2001 die Frage, warum zwei fast gleichaltrige Bündner, der Terrorist Camenisch und der Schriftsteller Huonder, so unterschiedliche Wege gingen. «Wer der Freiheit ergeben ist und den Gedanken rücksichtslos in sich aufgenommen hat, wird ihn sich nicht durch die Einwendungen der handfesten praktischen Gegenwart, bestehend aus haufenweise Müll und Gift vor unseren Türen und in unseren kaputten Hirnen, rauben lassen», sagt Camenisch am Ende des Films und bekommt von Huonder zur Antwort: «Vielleicht ist es genau das, was uns trennt. Dass ich bereit bin, jede Ideologie von dieser sogenannten ‹praktischen Gegenwart› in Frage stellen zu lassen. Denn die Gegenwart besteht nicht nur aus Müll und Gift, sondern auch aus unendlich viel mehr.» Als der am 6. Oktober 1954 in Chur geborene Silvio Huonder 1984 Graubünden verliess, standen durchaus Konflikte mit Polizei und Militär im Hintergrund, aber er sublimierte seine Revolte literarisch und konstatierte in Berlin als Dramatiker und Hörspielverfasser bald einmal, dass ihm die neue Umgebung auch eine neue, unprätentiöse Sprache schenkte. Zehn Jahre arbeitete er nicht nur die «praktische Gegenwart», sondern auch die Vergangenheit auf und überraschte 1997 mit dem Roman «Adalina», in dem ein Protagonist namens Maculin nach Graubünden reist, um den Unfalltod seiner Jugendgeliebten Adalina aufzuklären. «An meiner kleinlichen Eifersucht ist sie gestorben», muss er erkennen, und sein Todessturz ins Kaltbrunntobel ist eine späte Sühne für die frühe Schuld. Obwohl der Tod ganz im Zentrum steht, wurde im 20. Jahrhundert kaum je in einem anderen Schweizer Roman so zärtlich, so sinnlich, so erotisch erzählt wie in diesem in Berlin entstandenen Bündner Erstling. Nicht mal Huonder selbst konnte, wie das «Übungsheft der Liebe» von 1998 zeigt, das sinnliche Flair des Erstlings nochmals neu beschwören, und erst als er den Schauplatz nach Berlin verlegte und keine erotische Literatur mehr liefern wollte, gelang ihm wieder restlos Überzeugendes. So 2008 die Erzählungen «Wieder ein Jahr, abends am See», die Text für Text kleine Meisterwerke waren: dichte, kompakte Geschichten, von denen jede den Kern für einen ganzen Roman enthielt. Der Roman «Dicht am Wasser» erzählte dann 2009 von einem einzigen Tag am Schwielowsee südlich von Potsdam, wo Huonder heute lebt. Da geht es um Lüge, Verrat und Ehebruch, evoziert am Beispiel verschiedener Biografien und fokussiert auf die Geschichte von einem vermissten Kind, das am Ende lebend gefunden wird. Wobei das moderne Berlin nicht nur Kulisse, sondern auch Erzählgegenstand ist, und es letztlich auf anrührende Weise um die Suche nach dem kleinen Glück geht, das sich alle vom Leben erhoffen. Mit «Die Dunkelheit in den Bergen» (2012) hat sich Huonder nun doch wieder nach Graubünden zurückgetraut. Versetzt ins Jahr 1821 allerdings und in Gestalt von zwei Bündner Söldnern, die aus holländischen Diensten nach Chur heimkehren und im Auftrag des Barons von Mont eine Mordtat klären. Das historische Gewand, die exakt recherchierten Details und das intime Vertrautsein mit Landschaft und Sprache bringen dabei nicht nur einen glaubwürdig wirkenden, spannenden Kriminalroman hervor, sondern belegen zugleich überzeugend, dass Huonder fünfzehn Jahre nach «Adelina» auch des Bündner Schauplatzes und Milieus wieder vollkommen sicher ist.