Fritz Hochwälder und sein «Heiliges Experiment»

Im Frühling 1940, als man stündlich den Einmarsch der Deutschen erwartete und viele besser situierte Zürcher Richtung Innerschweiz verreist waren, sass in einer Mansarde an der Dufourstrasse 5 ein junger österreichischer Dramatiker und versuchte sein Entsetzen über die erst in Umrissen bekanntgewordene Shoa in bühnengerechte Dialoge zu bannen. Noch konnte man kaum glauben, was in Deutschland mit den Juden geschah, und darum endet das biblische Drama «Esther» qasi «zweckoptimistisch»: Esther und ihr Vater Mordechai können den König noch im letzten Moment vom geplanten Massenmord abbringen. Die Judenverfolgungen aber werden weitergehen, müsse man doch, so der König freimütig, «nun einmal wohl oder übel die allgemeine Unzufriedenheit auf den Rücken der Machtlosen ablenken ...» Das Stück, das 20 Jahre vor Frischs «Andorra» dem Schicksal der europäischen Juden unseres Jahrhunderts auf ergreifende Weise Ausdruck verlieh, liegt zwar seit 1955 gedruckt vor, ist aber bis heute noch von keiner Bühne aufgeführt worden. Und dies, obschon sein Autor Fritz Hochwälder nach dem Krieg mit Stücken wie «Das heilige Experiment» (1943), «Der öffentliche Ankläger» (1948), «Donadieu» (1953) oder «Die Herberge» (1955) für Jahrzehnte zu einem der bekanntesten und meistgespielten Bühnenautoren aufrückte und mit «Der Flüchtling» (1945), «Der Himbeerpflücker» (1965) und dem noch von keiner Bühne gespielten Drama «Holokaust» (1961) auch das Thema Schuld und Sühne der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen weiter dramatisch aufgearbeitet hat. Fritz Hochwälder war als Sohn von Eltern, die 1942 im KZ von den Nazis ermordet werden sollten, am 28.Mai 1911 in Wien zur Welt gekommen und hatte nach dem Abbruch seiner Gymnasialausbildung wie sein Vater die Meisterprüfung als Tapezierer abgelegt. Bereits als Gymnasiast, aber auch als Lehrling, schrieb er bis 1937 vier Schauspiele und zwei Hörspiele, die zum Teil mit Erfolg aufgeführt wurden. Nach Hitlers Einmarsch in Wien floh er 1938 über den Alten Rhein in Diepoldsau in die Schweiz und lebte, ohne die Schweizer Staatsbürgerschaft zu beantragen, bis zu seinem Tod am 20. Oktober 1986 in Zürich. Hochwälder, der von Zürich aus Weltberühmtheit erlangte, war der leider nicht allzu häufige Fall eines Emigranten, der nur Gutes über das Asylland Schweiz zu sagen hatte und es auch gelassen hinnahm, dass er während des Kriegs als Internierter im Tessin zu Strassenbauarbeiten gezwungen wurde. Nachdem er die verfängliche Antisemitismus-Problematik verlassen und auf einen exotischen Schauplatz, ein katholisches Thema und einen historischen Zeitraum übergewechselt hatte, durfte der Insasse des Arbeitslagers Gordola 1941 mit fremdenpolizeilicher Erlaubnis sein Schauspiel «Das Heilige Experiment» schreiben und konnte dank Freunden wie Werner Johannes Guggenheim und Hermann Lewin-Goldschmidt am 24. März 1943 eine glanzvolle Uraufführung dieses Meisterwerks am Städtebundtheater Biel-Solothurn unter der Regie von Peter Lotar erleben. Die Verantwortlichen hatten richtig getippt, denn zehn Jahre später sollte dasselbe Stück, als es in Paris mehr als 400mal gespielt wurde und den Beifall François Mauriacs fand, Hochwälders Weltruhm endgültig begründen und Inszenierungen in London, New York, Buenos Aires, Oslo, Helsinki, Wien, Berlin und vielen anderen Orten finden. «Bei näherer Beschäftigung mit dem Stoff erkannte ich die einzigartige Möglichkeit, die Fragen nach sozialer Gerechtigkeit und dem Reich Gottes auf Erden durch Ansiedlung in einem geschichtlichen Raum zu objektivieren und unserer Zeit nahe zu bringen», sagte Hochwälder 1966 zu seinem Projekt, den Untergang des jesuitischen Gottesstaats in Paraguay zu thematisieren und damit der Bedingung, im unverfänglichen Historischen bleiben zu müssen, einen spektakulären Gewinn abzuringen. Das Stück spielt an einem einzigen Tag, am 16.Juli 1767, und an einem einzigen Ort, im Jesuiten-Kolleg Buenos Aires. Pedro de Miura, Gesandter des spanischen Königs, will den von den Jesuiten errichteten Indio-Staat in Paraguay als ausbeuterisch und unchristlich entlarven, erkennt aber, dass alle Anschuldigungen falsch sind und es sich in Wirklichkeit um einen Idealstaat mit glücklichen Menschen handelt. Der König aber, von Intriganten bestochen, hat sein Urteil längst gefällt, de Miura hat sein Verdikt in der Tasche, so dass er den Jesuiten resigniert zugesteht: «Weil ihr recht habt, müsst ihr vernichtet werden.» Alfonso Fernandez, Provinzial der Jesuiten, weist das Verdikt zurück und lässt de Miura verhaften. Erst als sich ein gewisser Lorenzo Querini als Vertreter des Ordensgenerals zu erkennen gibt und den Mitbrüdern den Rückzug aus dem gesellschaftlich-politischen in den religiösen Bereich befiehlt – «Diese Welt ist ungeeignet für die Verwirklichung von Gottes Reich!» – gibt Fernandez nach. Im Gefecht, das entsteht, als sich der Stratege des Ordens, Pater Oros, weigert, die Indios zu entwaffnen, wird er verletzt und stirbt im Wissen um das Scheitern seiner Utopie: «... und so verlasse ich diese Welt, in der noch immer überall Unterdrückung herrscht, und es ist alles vergeblich gewesen!» «Ihr Stück hat mich von Anfang bis Ende in äusserster Spannung gehalten; es ist dramaturgisch von beneidenswerter Meisterschaft, und ich kann mir denken, dass es auf der Bühne von beklemmender Wirkung ist», teilte Max Frisch Hochwälder 1947 mit, als er das Stück gelesen hatte, und gerade in einer Epoche, in der die Begegnung und Konfrontation zwischen der europäischen und der nichteuropäischen Welt zu etwas hoch Dramatischem geworden ist, dürfte diese Beklemmung wieder auf bewegende Weise nachempfunden werden. Nachdem Aufführungen des grossartigen, allerdings 14 Männerrollen erfordernden Schauspiels lange Zeit Schüleraufführungen vorbehalten schienen und in jüngster Zeit einzig das Thèâtre de l’Ouest in Paris damit 2011 einen drei Jahre anhaltenden Erfolg landete, ist es eine gute Nachricht, dass das Theater Biel Solothurn, das es 1943 zur Uraufführung gebracht hat, für 2017 eine neue Inszenierung in der Regie von Schauspieldirektorin Katharina Rupp plant. Premiere ist am 2.September 2017 im Stadttheater Solothurn.