Lukas Hartmann *1944

Als Hans Rudolf Lehmann am 29. August 1944 zur Welt kam, war sein Vater enttäuscht: Er hätte lieber eine Tochter gehabt! Der Berner Postbeamte konnte nicht wissen, dass sein Sohn unter den Schweizer Schriftstellern derjenige sein würde, der sich am intensivsten mit dem Vater auseinandersetzte. In «Gebrochenes Eis», dem Trendbuch des unruhigen Jahres 1980, mit dem sich Lukas Hartmann, wie er sich als Autor nannte, nach Aussenseiter-Porträts, Hörspielen und unzähligen Arbeiten für das Radio endgültig als sozial- und gesellschaftskritischer Autor durchsetzte, widmete er dem Vater nicht nur ein Porträt, sondern liess ihn direkt als Gesprächspartner zu Wort kommen. Und nicht zuletzt dieses Gespräch liess den Autor zur Quintessenz gelangen: «Ich fühle, das Eis ist gebrochen, die alten Verhaltensweisen weichen sich auf.» Die Herkunft aus einer bäuerlichen Familie, die in den Krisenjahren die Härte des sozialen Wandels zu spüren bekam, prägte nicht nur Hartmanns Frühwerk, sondern bestimmte als soziales und humanes Engagement sein Schreiben auch dann noch, als er von der Umsetzung politischer Aktualität abzusehen begann und seine Stoffe aus der Geschichte bezog. Nie um dem Historischen Reverenz zu erweisen, sondern um aus der Geschichte Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Das gilt schon für «Pestalozzis Berg» von 1978, wo der zum hehren Übervater der Schweizer Pädagogik stilisierte Erzieher in einer schweren Lebenskrise gezeigt ist. Es gilt aber auch für die 1992 bis 2009 entstandenen acht Berner Romane, wo jedes Mal Defizite an Menschlichkeit vorgeführt werden, die weit über die dargestellte Zeit hinaus virulent sind. «Die Seuche» zeigte 1992 Parallelen zwischen dem Umgang mit der mittelalterlichen Pest und dem mit der modernen Seuche Aids auf. «Die Mohrin» (1995), «Die Tochter des Jägers» (2002) und «Bis ans Ende der Meere» (2009) evozierten die noch immer nachwirkenden Fehlleistungen des kolonialen Europas im Umgang mit der Dritten Welt. «Die Frau im Pelz» (1999) und «Die Deutsche im Dorf» (2005) machten deutlich, wie wenig der epochale Sündenfall des Nationalsozialismus wirklich bewältigt ist. «Die letzte Nacht der alten Zeit» (2007) und «Der Konvoi» (1997) demonstrierten mit der Offenlegung einschlägiger Schicksale, wie sehr eine Umbruchszeit wie der Untergang des alten Bern im Jahre 1798 oder die Umwälzungen im Gefolge des Ersten Weltkriegs das Leben und das Bewusstsein Einzelner in ihren Grundfesten erschüttern können. Nach dem Abstecher zum psychologischen Roman «Finsteres Glück» (2010) hat sich Hartmann, der zugleich einer der erfolgreichsten Schweizer Kinderbuchautoren ist, erneut dem von ihm brillant beherrschten historischen Roman zugewandt: mit «Räuberleben», der Geschichte des 1787 in Sulz am Neckar hingerichteten Bandenführers Hannikel, die sich allein schon mit ihren ersten 15 Seiten, der Beschreibung einer Brandkatastrophe, als Meisterleistung empfiehlt, und mit «Abschied von Sansibar» (2013), der Geschichte der nach Deutschland geflohenen sansibarischen Prinzessin Salme, die nicht nur mit dem Schicksal dieser exzentrischen Frau, sondern mit demjenigen ihrer ganzen Familie nachhaltig zu berühren vermag. Dem Geheimnis, warum seine Figuren uns immer so nahe kommen, war Hartmann schon 1987 auf der Spur, als er im Zusammenhang mit Pestalozzi sagte: «Kein Biograf verfügt über die Wahrheit. Jeder Biograf wirft seinen Schatten über die Figur, die er zu erhellen meint.»


Besprechung «Die Seuche» im «Kleinen Bund» vom 22.04.1992
Besprechung «Die Wölfe» im «Bund» vom 12.08.1993
Besprechung «Die Mohrin» im «Bund» vom 04.11.1995
Besprechung «Der Konvoi» im «Bund» vom 20.02.1997
Besprechung «Die Frau im Pelz» im «Bund» vom 04.02.1999
Besprechung «Die Tochter des Jägers» im «Bund» vom 28.02.2002
Besprechung «Die Deutsche im Dorf» in der «Weltwoche» vom 03.02.2005
Besprechung «Die letzte Nacht der alten Zeit» im «Bund» vom 03.02.2007
Besprechung «Bis ans Ende der Meere» in der «Weltwoche» 09.2009
Besprechung «Auf beiden Seiten» in der «NZZ am Sonntag» vom 31.05.2015
Besprechung «Ein passender Mieter» in der «NZZ am Sonntag» vom 28.08.2016
Besprechung «Ein Bild von Lydia» in der «NZZ am Sonntag» vom 25.02.2018
Besprechung «Der Sänger» im «Bieler Tagblatt» vom 20.04.2019
«Schattentanz» von 2021 in den «Schaffhauser Nachrichten» vom 24.02.2021
«Ins Unbekannte» (CH-Media vom 22.09.2022)