Kurt Guggenheim

Ein junger Mann bricht auf zu neuen Ufern und ungewissen Zielen, nachdem er sich mit letzter Kraft aus den Verstrickungen von Schuld und Leidenschaft hat befreien können. So etwa lautet die Quintessenz des Romans, mit welchem 1935 der Zürcher Kaufmannssohn Kurt Guggenheim nach Versuchen in vielerlei Berufen unversehens in die Welt der Literatur eintrat. Das Buch trug den sprechenden Titel Entfesselung und basierte auf einer wahren Begebenheit, die Guggenheim, wie in Salz des Meeres, Salz der Tränen nachzulesen ist, 1919 in Le Havre von einer jungen Frau erzählt bekommen hatte: Die Modistin Maryse reist aus Le Havre nach Paris zum Begräbnis ihrer Mutter und wird in der darauffolgenden Nacht von deren Liebhaber vergewaltigt. Diese Dreiecksgeschichte, die im Roman nach Zürich verlegt ist, ohne Vergewaltigung auskommt und ganz aus der Perspektive des jungen Liebhabers erzählt ist, bildet aber nur oberflächlich die Fabel des Buches. In Wirklichkeit ist darin ein Stück Seelenbiographie des Autors Kurt Guggenheim dargestellt: der Versuch, sich aus den Fesseln der unbefriedigenden bürgerlichen Existenz zu lösen und zugleich ein lange nachwirkendes unglückliches Liebeserlebnis zu überwinden. Die Welt der Literatur soll das Ziel, die Sprache das Medium dieser Befreiung sein. Darum heisst es im Roman einmal: »Der Sinn der Sprache ist Befreiung, Entfesselung von der Einsamkeit.«
Obwohl sein Erstling in der Presse hohes Lob erntete, ist Kurt Gugenheim damit die angestrebte Befreiung noch nicht wirklich gelungen - ebensowenig wie mit dem 1936 publizierten Roman Sieben Tage, einer nach dem Modell der biblischen Schöpfungsgeschichte erzählten Heimkehrergeschichte. Erst 1938, nach der durch Eva Welti-Hug vermittelten Begegnung mit dem Werk des französischen Entomologen J.-H. Fabre (1823-1915), gelang dem unterdessen tatsächlich von allen bürgerlichen Fesseln Freigewordenen mit Riedland der endgültige Durchbruch zu schriftstellerischem Selbstvertrauen und eigenem Stil: weg von der übertriebenen Psychologisierung und hin zu naturwissenschaftlich genauen, sprachlich präzisen Schilderungen von Vorgängen in Natur und menschlicher Seele. So wurden dann Bücher möglich wie Wir waren unser vier (1949) oder Alles in Allem (1952-1955), die grossartige Zürcher Tetralogie, für die Guggenheim 1955 den Literaturpreis der Stadt Zürich erhielt.
Am überzeugendsten aber konnte er seine an Fabre geschulte Methode eines ebenso exakt beobachtenden wie visionär-innovativen Erzählens in jenen drei Romanen verwirklichen, die zwischen 1959 und 1964 seine ersten vierzig Lebensjahre zu poetischem Leben erweckten: Die frühen Jahre; Salz des Meeres, Salz der Tränen und Sandkorn für Sandkorn. Dass dabei Die frühen Jahre am beglückendsten ausgefallen sind, hängt mit der hinreissenden Darstellung jener Frau zusammen, die für die Gestalt der Esther Modell stand und die als heimliches Idol und versteckte Adressatin in fast allen Büchern von Kurt Guggenheim auftaucht. Als ob er sein ganzes umfangreiches Romanschaffen letztlich als eine einzige nie endende Liebesgeschichte verstanden wissen wollte.
In die Edition »Reprinted by Huber«, Frauenfeld, ist, herausgegeben von Charles Linsmayer, eine Kurt-Guggenheim-Werkausgabe integriert. Bis 2000 sind 4 Bände erschienen (Literturszene Schweiz)

Guggenheim, Kurt

*Zürich 14.1.1896, †ebd. 5.12. 1983, Schriftsteller. Der Sohn eines Kaffee-Importeurs ergriff trotz anders gelagerten Begabungen dem Wunsch seines Vaters folgend den Beruf eines Kaufmanns, den er bis in die 30er Jahre (Bankrott der väterl. Firma unter seiner eigenen Leitung) ausübte. Bereits seit 1912 hatte G. regelmässig Tagebuch geführt, und seine Lehrjahre bei einem Geschäftsfreund des Vaters in Le Havre benutzte er 1919-22, um sich die für sein späteres literar. Werk ausserordentl. wichtigen Kenntnisse der franz. Kultur und Literatur anzueignen. Sein erstes Buch veröffentl. der fast 40jährige 1935. Es hiess »Entfesselung« und handelte von der Loslösung eines jungen Mannes aus den als beengend empfundenen bürgerl. Verhältnissen. Aber erst mit dem dritten Buch, »Riedland«, gelang G. 1938 der Durchbruch. In Anlehnung an den frz. Entomologen J.-H. Fabre und dessen »Souvenirs entomologiques« hatte er hier seinen Stil gefunden, dem er fortan treu bleiben sollte: naturwiss. exaktes Beobachten von Vorgängen in der Natur und in der menschl. Seele, Nüchternheit und Sachlichkeit der Darstellung. Mit Eigenschaften wie diesen war G. wie kein zweiter prädestiniert, der literar. Chronist seiner Epoche zu werden, so mit »Wir waren unser vier« (1949), der Romanchronik des 2. Weltkriegs in der Schweiz, v.a. aber mit dem vierbändigen Epochenroman »Alles in Allem« (1952-55). Auf über 1200 Seiten macht das 170 Figuren einbeziehende Romanfresko in spannender, nie abflachender simultaner Erzählweise deutl. und nachvollziehbar, wie die Bewohner der grössten Schweizer Stadt die aufwühlende Zeit zw. dem Beginn des 20. Jh. und dem Ende des 2. Weltkriegs durchlebten. Das Werk, für das er 1955 den Literaturpreis der Stadt Zürich erhielt, bedeutete wohl die Krönung, nicht aber den Abschluss seiner Schriftsteller-Karriere, liess er dieser quasi offiziellen Chronik doch mit einer Werk-Reihe, die man »Esther-Trilogie« nennen könnte, noch eine zweite, sehr viel persönlichere, intimere und literar. stringentere Darstellung der von ihm erlebten Epoche folgen. Bes. bewegend ist dabei die Schilderung seiner Jugendliebe zu Esther alias Eva Welti-Hug in »Die frühen Jahre« (1962), die Beschreibung seines Frankreich-Aufenthalts in »Salz des Meeres, Salz der Tränen« (1964) sowie die Rechenschaft über seine Begegnung mit dem für ihn so folgenschweren Werk Fabres in »Sandkorn für Sandkorn« (1959). Noch näher an das persönl. Erlebnis heran kommen seine allerdings von jegl. Klatsch unberührten Tagebuchaufzeichnungen, die er 1981-84 u.d.T. »Einmal nur« in drei Bde. auszugsweise publizierte. Obwohl er sein Bestes als Prosaist gab, leistete G. auch Beachtliches auf dem Gebiet der Dramatik. So mit dem Drama »Der sterbende Schwan« (1943, UA Zürcher Schauspielhaus), v.a. aber mit seinen Drehbüchern zu Filmen wie »Wachtmeister Studer«, »Die letzte Chance« sowie mit der erstaunlich populären vierzigteiligen Dialekt-Hörspielreihe »Familie Läderach« (1949-51). - Werke: Werke : Die frühen Jahre/Salz des Meeres, Salz der Tränen, Werke : Riedland/Sandkorn für Sandkorn (beide hg. von C. Linsmayer, 1989/1992). … Lit.: Hauswirth, A.: K.G. Die Romane und autobiograph. Bücher, Diss., Zürich 1977; Linsmayer, C.: K.G. Der Dichter, sein Idol und die Wirklichkeit, in: K.G. Die frühen Jahre/Salz des Meeres, Salz der Tränen, Neuausg. Frauenfeld 1989; ders.: K.G., in: Grosse Schweizerinnen und Schweizer, Stäfa 1990. (Schweizer Lexikon CH 91)


Guggenheim, Kurt

* 14. 1. 1896 Zürich, † 5. 12. 1983 Zürich. - Erzähler, Drehbuchautor u. Essayist.
Einziger Sohn des jüd. Kaufmanns Hermann Guggenheim-Ris, war G. zur Nachfolge seines Vaters bestimmt u. trat nach der Handelsschule u. nach Bildungsaufenthalten in Frankreich u. England 1922 als kaufmänn. Angestellter ins väterl. Kaffee-Importgeschäft ein. G., der ursprüngl. hatte Arzt werden wollen, fühlte sich in dieser Stellung nicht wohl u. widmete sich immer stärker seinen schriftstellerischen Neigungen. Als er 1925 nach dem Tod seines Vaters die Firma ganz übernehmen mußte, gelang es ihm nicht, der Probleme der Krisenzeit Herr zu werden. Er mußte liquidieren u. hielt sich in der Folge als Verleger, Antiquar u. Redaktionsassistent des »Schweizer Spiegel« über Wasser, bis er sich ab 1935 ganz dem Schriftstellerberuf zu widmen begann.
Obwohl sein Erstling Entfesselung (Zürich 1935) in der Presse hohes Lob erntete, gelang ihm damit der Durchbruch zum eigenen Stil noch nicht. Erst mit Riedland (Zürich 1938. Zuletzt Frauenfeld 1978), seinem dritten, für einen Wettbewerb geschriebenen Roman, erreichte er seine unverwechselbare literar. Physiognomie: weg von der modischen, übertriebenen Psychologisierung u. hin zu naturwissenschaftlich genauen, sprachlich präzisen Schilderungen von Vorgängen in Natur u. menschl. Seele. Vorbild dazu war ihm neben Balzac u. Zola v. a. der Insektenforscher Jean-Henri Fabre, dessen Souvenirs entomologiques er 1935 in Genf durch Vermittlung seiner Jugendfreundin, der Biologin Eva Welti-Hug, kennengelernt hatte. G. stellte seine Begegnung mit dem Werk Fabres im Roman Sandkorn für Sandkorn (Zürich 1959. Frauenfeld 1979) dichterisch dar. 1939 heiratete G. die Lyrikerin Gerda Seemann Während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs stand G., der als jüd. Schweizer (obwohl nicht aktiv praktizierend) zu einer bes. gefährdeten Gruppe gehörte, mit Engagement im Dienst des auf polit. u. kulturelle Eigenständigkeit u. Selbstbehauptung ausgerichteten Schweizer Films. Unter Richard Schweizer, Leopold Lindtberg u.a. schuf er Drehbücher u. Dialoge zu einer Reihe sehr erfolgreicher Filme (Der Schuß von der Kanzel, Wachtmeister Studer, Die letzte Chance usw.). Der sog. »geistigen Landesverteidigung« war auch die 40teilige Hörspielserie Familie Läderach verpflichtet, die vom Schweizer Radio 1949-1951 in einer Dialektübersetzung ausgestrahlt wurde. Obwohl G. neben seiner Film- u. Rundfunkarbeit in jener Zeit auch drei Theaterstücke schrieb (Der sterbende Schwan. Urauff. Zürcher Schauspielhaus 1943), war u. blieb seine Begabung doch eher auf das Erzählerische ausgerichtet. Nach Wilder Urlaub (Zürich 1941), dem Roman eines Deserteurs, der v. a. in Richard Schweizers Verfilmung Erfolg hatte, wandte er sich der romanhaften Gestaltung der jüngeren Schweizer Geschichte zu u. wurde nach u. nach zu einer Art Chronist seiner Lebensepoche. In Wir waren unser vier (Zürich 1949) gelang ihm eine nüchtern-sachl. Darstellung der Jahre 1939-1949 in der Schweiz, jener Zeit also, die durch äußere Bedrohung u. zunehmende innere Resignation, aber auch durch die Dominanz des Soldatischen u. einen etwas pathet. Patriotismus gekennzeichnet war. G. konzentriert das Geschehen auf vier repräsentative Figuren (den Arzt u. Ich-Erzähler Jean Loriol, den jüd. Biologen Michael Glanzmann, den treuherzigen Materialverwalter Vinzenz Umbrecht u. den Schriftsteller Martin Anwand, eine Verkörperung des 1941 verstorbenen Freundes Albin Zollinger), die miteinander durch ihre Zugehörigkeit zur Armee in Beziehung stehen. Besonders spektakulär ist die Darstellung eines Falles von Spionage zugunsten Deutschlands, der mit der Hinrichtung des Verräters durch ein aus seinen Kameraden bestehendes Erschießungskommando endet.
Ihren Höhepunkt erreicht G.s Kunst der romanhaften Geschichtsdarstellung im vierbändigen Zyklus Alles in Allem (Zürich 1952-55. Frauenfeld 1968). Gruppiert um den autobiographisch gezeichneten jüd. Kaufmannssohn u. angehenden Literaten Aaron Reiss, erlebt eine fest umrissene, überschaubare Gruppe von charakteristischen, aber individuell gezeichneten Figuren die Zeit zwischen dem letzten Viertel des 19. Jh. u. dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Zürich. Um diese Hauptgestalten sind zahlreiche weitere Personen gruppiert, die oft nur kurz auftauchen u. häufig der realen Geschichte entnommen sind. So entsteht vor den Augen des Lesers ein dichtes, abwechslungsreiches Fresko, das trotz des Umfangs von über 1100 Druckseiten weder in bloße Geschichtsdarstellung abflacht noch in Einzelbiographien versickert. Mit diesem Werk, für das G. 1955 den Literaturpreis der Stadt Zürich erhielt, hatte er sich freigeschrieben, um nun in seinem bedeutenden Alterswerk, der Trilogie Die frühen Jahre (Zürich 1962. Neuausg. 1989), Salz des Meeres, Salz der Tränen (Zürich 1964. Neuausg. 1989) u. Sandkorn für Sandkorn, sein Leben u. seine Erfahrungen ein weiteres Mal, u. zwar diesmal in direkt autobiograph., intim-persönl. u. doch unbedingt dichterischer Weise, Revue passieren zu lassen. Während Die frühen Jahre die Zürcher Kindheit u. das Liebeserlebnis mit Esther gestalten, schildert Salz des Meeres, Salz der Tränen den Aufenthalt in Le Havre u. die Trauer um den Verlust der Geliebten, die ihm einen anderen vorgezogen hatte. Sandkorn für Sandkorn stellt auch die Entstehungsgeschichte des erfolgreichen Erstlings Riedland dar, die unmittelbar durch den Einfluß Fabres bestimmt war. Besonders eindrücklich an dieser Trilogie ist, wie jene Frauenfigur, die in vielen von G.s Werken als geheimnisvolles Idol präsent ist (Estelle in Wir waren unser vier, Jacqueline Voubrasse in Alles in Allem usw.), als Esther ihre dem tatsächl. Vorbild Eva Welti-Hug sehr nahe Gestalt zurückgewinnt. Den innersten Kreis der lebenslangen Beschäftigung mit sich selbst u. seiner Zeit begann G. ab 1981 öffentlich zu machen, als er von seinen bereits 1912 einsetzenden Tagebuchaufzeichnungen eine umfangreiche Auswahl zu publizieren begann, deren dritter und letzter Band erst nach seinem Tod herausgegeben wurde (Einmal nur. Tagebuchblätter. Bd. 1: 1925-50. Frauenfeld 1981. Bd. 2: 1951-70. Ebd. 1982. Bd. 3 hg. von Peter Keckeis u. Charles Linsmayer: 1970-80. Ebd. 1984).
WEITERE WERKE: Ausgabe: Werke in Einzelbdn. Hg. Charles Linsmayer. Bd. 1: Die frühen Jahre. Salz des Meeres, Salz der Tränen. Frauenfeld 1989. Bd. 2: Riedland. Sandkorn für Sandkorn. 1990. , Bd. 3: «Alles in allem» 1996, Bd.4 «Minute des Lebens, «Der heilige Komödiant», 1999, 2002 erscheinen neu: ,Der goldene Würfel»/«Das Zusammensetzspiel» - Einzeltitel: Sieben Tage. Zürich 1936 (R.). - Der heitere Lebensabend. Basel 1939 (D.). - Die heiml. Reise. Zürich 1945 (R.). - Der Friede des Herzens. Zürich 1956 (R.). - Heimat oder Domizil? Zürich 1961 (Ess.). - Tgb. am Schanzengraben. Zürich 1963. - Das Ende v. Seldwyla. Zürich 1965 (R.). - Der goldene Würfel. Zürich 1967 (R.). - Minute des Lebens. Roman um die Freundschaft zwischen Zola u. Cézanne. Zürich 1969. - Der hl. Komödiant. Zürich 1972 (E.). - Gerufen u. nicht gerufen. Zürich 1973 (R.). - Nachher. Zürich 1974 (E.en). - Der Labyrinthische Spazierweg. Goethes Reise nach Zürich, nach Stäfa u. auf den Gotthard im Jahre 1797. Frauenfeld 1975 (Ess.). - Das Zusammensetzspiel. Frauenfeld 1977 (R.). - Herausgeber: K. G. u. Adolf Portmann: Das offenbare Geheimnis. Zürich. 1961. Neuausg. 1987 (Übers. aus dem Werk J. H. Fabres).

LITERATUR: Alfred Hauswirth: K. G. Die Romane u. autobiograph. Bücher, bes. im Hinblick auf die Entwicklung der Hauptgestalten. Diss. Zürich 1971. - Heinrich Meyer: Die Kunst des Erzählens. Bern 1972. - Charles Linsmayer: K. G. Leben u. Werk. In: K. G.: Wir waren unser vier. Neu hg. v. Ch. Linsmayer. In: Frühling der Gegenwart. Zürich 1981, S. 217-251. - Ders.: K. G. Der Dichter, sein Idol u. die Wirklichkeit. In: K. G.: Werke I, a. a. O., S. 345-407 – Nicole Rosenberger: K.G. in : Metzler-Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur, Stuttgart 2000.
(Bertelsmann Literaturlexikon)

Guggenheim, Kurt

(Kurt Guggenheims Roman «Alles in Allem»
und das Thema soziale Integration)

Den Schriftstellern, die er in seinem neu gegründeten Verlag herausbringen wollte, schickte Friedrich Witz 1945 ein «Artemis-Autorenheft» zum Ausfüllen zu. Auf die Frage: «Wie stellen Sie sich ihre schriftstellerische Weiterentwicklung vor?» antwortete der damals 49jährige Kurt Guggenheim, von dem für 1946 der Roman «Die heimliche Reise» in Vorbereitung war: «Ich betrachte alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, als Vorstufe zu einem grossen, modernen schweizerischen Struktur- und Generationenroman, den zu schreiben meine Absicht zwischen 50 und 60 ist. Das Problem für mich ist, die ihm adäquate neue Form zu finden.»*1
Sechs Jahre später – ausser der «Heimlichen Reise» war im gleichen Artemis-Verlag inzwischen auch der Grenzbesetzungsroman «Wir waren unser vier» erschienen – hatte Guggenheim das Formproblem offenbar soweit gelöst, dass er an die Verwirklichung seines Vorhabens gehen konnte. «Seit dem Abschluss des Buches "Wir waren unser vier", das 1949 herausgekommen ist, arbeite ich den dem auf drei Bände berechneten zyklischen Roman, in dem ich die Entwicklung der Stadt Zürich während der letzten fünfzig Jahre zu gestalten und zu deuten versuche», meldete er am 28. Juni 1951 Franz Beidler, dem Sekretär des Schweizerischen Schriftsteller-Vereins, als dieser ihn im Zusammenhang mit einem Subventionsgesuch um einen Bericht über seine Pläne und Lebensumstände bat. Wobei die letzteren, wie weiter aus dem Brief hervorgeht, offensichtlich so prekär waren, dass sie das Projekt ernsthaft gefährdeten: «Der erste Band fängt nun an Gestalt anzunehmen; ob ich ihn aber noch in diesem Jahr unter Dach bringen werde, ist mehr als ungewiss, denn alle die Beschäftigungen, deren ich mich des Brotverdienens wegen hingeben muss, nehmen viel Zeit und Denkraum weg. (...) Jährlich, von Juli bis anfangs November, leite ich, zum Teil vollamtlich, die Propaganda der Schweizerischen Winterhilfe, daneben verfasse ich seit etwa zwei Jahren die Sendungen der "Familie Laederach" des Studios Bern (Sendezeit 45 Min., alle drei Wochen, mit Fr.200.- pro Sendung honoriert) und schreibe, sofern die Gelegenheit sich bietet, Reklametexte für die Propagandazentrale für Produkte der schweiz. Landwirtschaft. All das trägt mir ein Einkommen von etwas über 7000 Franken ein. Sie sehen aus dieser Sachlage, wie wenig Freiheit mir zur Erfüllung dessen bleibt, was ich naturgemäss als meine eigentliche Bestimmung ansehe. Es kommt dazu, dass ich mich, 1896 geboren, in einigen Jahren jener Grenze nähere, wo nach menschlichem Ermessen die schöpferische Gestaltungskraft abzuklingen beginnt. Es muss deshalb mein Bestreben sein, den Zyklus "Zürich", in dem ich meine schriftstellerische Lebensaufgabe erblicke, vor dem Beginn dieses biologischen Zeitpunktes zu beenden. Ich hoffe, dass mir, trotz den nicht gerade leichten Lebensumständen, die Kraft bis zum Gelingen dieses Unternehmens erhalten bleibe.» *2
Kurt Guggenheim hat, wie wir inzwischen wissen, allen Widrigkeiten zum Trotz die Beharrlichkeit und das Durchhaltevermögen aufgebracht, den einmal gefassten Vorsatz im selbstgesetzten zeitlichen Rahmen in die Tat umzusetzen: Im Herbst 1955, also wenige Monate vor seinem sechzigsten Geburtstag konnte der vierte und abschliessende Band seines Zürcher Zyklus «Alles in Allem» erscheinen, und das Echo, das er in Zürich und weit darüber hinaus auslöste und das in der Zuerkennung des Zürcher Literaturpreises für das Jahr 1955 gipfelte, deutet an, dass die imposante schriftstellerische Leistung nicht nur vom Autor selbst, sondern auch von seinem zeitgenössischen Umfeld als Erfüllung einer zwar selbstgewählten, aber durchaus im Sinne der Res publica liegenden schriftstellerischen Bestimmung und Aufgabe angesehen wurde.
Die Energie und Beharrlichkeit, mit der er sein Projekt in die Tat umsetzte – die vier Bände erschienen ab Herbst 1952 nicht nur sukzessive im Abstand von je zwölf Monaten, sondern wurden in diesen Zeiträumen auch erst geschrieben! – wuchs Guggenheim allerdings nicht erst in der Phase der eigentlichen Niederschrift zu. Wie sein Alter ego Aaron Reiss, der dem Roman als fiktiver Verfasser mitgegeben ist, verfolgte Guggenheim die Idee eines sinnstiftenden grossen Generationen- und Epochenromans schon Jahrzehnte vor der Niederschrift des ersten Satzes mit unbeirrbarer Zielstrebigkeit.
Bereits seit 1912, seit seinem 16. Lebensjahr also, führte Guggenheim, als wolle er das «Material» des gelebten Lebens und seines Umgangs mit Literatur, Philosophie, Geschichte und Naturwissenschaft für alle Fälle schon einmal festhalten , ein ausgesprochen literarisch orientiertes Tagebuch.*3 Dem Zürcher Handelsschüler waren, sieht man von Goethe und Gottfried Keller einmal ab, nicht die Werke der deutschen Literatur, sondern die grossen französischen Epochenromane des 19.Jahrhunderts – Victor Hugo, Balzac, Zola, Flaubert – das entscheidende Bildungserlebnis, und die Affinität zu den französischen Vorbildern vertiefte sich wesentlich, als Guggenheim nach dem Ersten Weltkrieg als Stagaire eines grossen Kaffee-Importgeschäfts in Le Havre Proust und seine Welt für sich zu entdecken begann.
Zwei äusserlich wenig spektakuläre Erfahrungen kamen, wenn wir einmal von einer dritten, allerdings erst für 1930 zu datierenden absehen, in den gleichen Jahren motivierend hinzu: das väterliche Machtwort, das dem Wunsch des jungen Mannes, Arzt zu werden, eine Absage erteilte und ihn zwang, die Handelsschule vor der Matura zu verlassen und ins elterliche Geschäft einzutreten*4 ,
und jene nur wenige Wochen dauernde Romanze mit der späteren Biologin Eva Hug im Sommer 1918, die er noch 1978 im Tagebuch als sein «entscheidendes Lebensereignis»*5 bezeichnete. Der ungeliebte und nur mit halbem Einsatz ausgeübte kaufmännische Beruf liess den jungen Guggenheim zunächst in die Rolle eines Dilettanten und Amateurliteraten und später, nach dem Bankrott des väterlichen Geschäfts, in diejenige eines «Schlehmihls» und Versagers hineinschlittern, aus der ihn, wie er sich ausmalte, die Hervorbringung eines grossen literarischen Werks nach dem Vorbild von Prousts «A la recherche du temps perdu» mit einem Schlag hätte herausbefördern können.
Die besagte Liebesgeschichte von 1918, die mit dem Triumpf des nichtjüdischen Rivalen endete*6 , motivierte Guggenheim gleich in doppelter Hinsicht auf intensive, lange nachhaltende Weise: zum einen verwies sie ihn, indem seine Zurückweisung nicht zuletzt auch deswegen erfolgte, nur allzudeutlich auf seine jüdische Herkunft und deren höchstens durch eine bedeutende Leistung zu überwindenden Minderheitenstatus, zum andern aber verhalf sie ihm in der Person der angebeten jungen Frau, die nicht die Partnerin einer gelebten Beziehung, sondern einzig das Objekt einer sublimierten, ins Literarische transponierten Liebe sein konnte (und wollte!), zu einem alterslos gleichbleibenden weiblichen Idol, das er in seinem ganzen schriftstellerischen Werk immer wieder neu abbilden und besingen sollte.

Exakt und in der Freude: Ein Insektenforscher als Vorbild

Bereits der Erstling «Entfesselung» von 1935 – die Geschichte eines Ausbruchs aus den beengenden Fesseln der bürgerlichen Enge und der moralischen Schuld – und der dem biblischen Schöpfungsmythos nachempfundene, handlungsmässig auf eine einzige Woche konzentrierte zweite Roman, «Sieben Tage» von 1936, sind im Grunde Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft und einem Gemeinwesen, das einzelne Glieder von sich stösst (Peter Quirin in «Entfesselung»), anderen (Karl Meidenholz in «Sieben Tage») , aber auch die Chance der Integration bietet.
Seinen unverwechselbaren Ton und die seinen Themen und dem angestrebten epochalen Vorhaben adäquate Schreibweise aber fand Guggenheim erst in seinem dritten Werk, dem zwischen 1935 und 1938 entstandenen und 1938 erstmals publizierten Roman «Riedland». Wie sehr er selbst bereits die Projektierung dieses Romans als eine Zäsur empfand, zeigt die Tagebucheintragung vom 5.Oktober 1935, die er mit «Pensées ein commençant opus 3 (Tuggen)» überschrieb: «Ich möchte es in der Freude schreiben, en sérénité. Ohne Hast und ohne ein Wort, das nicht trifft. Exakt, gewissenhaft, ohne Pathos, du bon travail quoi: mesuré, massvoll. Propre. Alles vergessen, was hinten liegt. Neu beginnen.»*7
Guggenheim hat diese Zeilen in Chêne-Bougeries bei Genf geschrieben, während eines Aufenthalts bei Eva Hug, die inzwischen als Biologin den Doktor gemacht ihren einstigen Verlobten, den Maler und Dramatiker Albert J.Welti, geheiratet hatte. Durch Eva Welti-Hug, mit der er in der Umgebung Genfs lange Wanderungen und biologische Exkursionen unternahm, hatte den französischen Entomologen Jean-Henri Fabre(1823–1915) und dessen zehnbändige «Souvenirs entomologiques» kennengelernt und war schon bald zu einem begeisterten Anhänger des unspektakulären südfranzösischen Gelehrten geworden. Statt weiterhin Proust oder Zola nachzuahmen machte er damals in einem ebenso spontanen wie überraschenden Entschluss diesen Naturwissenschaftler zu seinem künftigen Vorbild. Nicht nur, was die Technik des geduldigen Beobachtens und Beschreibens angeht, die sein Werk charakterisiert, sondern auch im Hinblick auf die freudig-optimistische, gelassen-heitere Denk- und Lebensweise, aus der heraus der Franzose in seinem stillen «Harmas» an die Arbeit gegangen war. 1959, in «Sandkorn für Sandkorn», hat Guggenheim die Entstehung von «Riedland», seine Gespräche mit der Inspiratorin Eva Welti-Hug und seine Begegnung mit Fabre und seinem Werk auf einprägsame, noch immer spürbar von Begeisterung und Bewegung zeugende Art und Weise beschrieben. Wer Guggenheims nach 1938 erschienene Werke und insbesondere «Alles in Allem» vor Augen hat, erkennt dabei sofort, wie nahe der nachgeborene Schweizer Schriftsteller seinem französischen wissenschaftlichen Vorbild sowohl in Sachen schriftstellerische Arbeitstechnik als auch im Hinblick auf die für die Arbeit günstige Seelenlage und Gestimmtheit tatsächlich zu kommen vermochte.
«Fabre bezwingt den Leser durch die Schärfe seiner Beobachtungen, seine Unbestechlichkeit, sein unermüdliches Beharren und eine Geduld, die mit jener der Natur selbst wetteifert», heisst es im 12. Kapitel von «Sandkorn für Sandkorn». «Er entzückt durch die Genialität der Versuche, die er mit den Insekten anstellt, fast ohne dass sie es wissen und spüren, und stets so, dass sie nicht leiden müssen. Zuverlässig, gewissenhaft, ehrlich, wie er ist, erringt er ganz kleine feststehende Resultate, weil er seine Anstrengung und die Zeit, Jahre oft, die er, immer und immer wieder zurückkehrend und neu beginnend, für nichts rechnet. All das hinterlässt, wenn man die "Souvenirs" liest, einen tiefen Eindruck. Aber ihren Zauber, das Erlebnishafte, Befreiende, Beseligende fast, möchte man sagen, erklärt es nicht. Diese Wirkung kommt von anderswo her. Die Kraft dieser Bücher kommt daher, dass sie von einem glücklichen Menschen geschrieben wurden. Auch jetzt noch, da ich doch mit seinem Werke vertraut bin, pocht mir das Herz, wenn ich an die Jahre denke, die er im "Harmas" verbracht hat. Hier ist es mir, ist es uns allen auf eine greifbare, beweisbare Weise vorgelebt, dass es ein Glück gibt und dass man es sich erringen, dass man es sich erstreiten kann, nicht, oder fast nicht mit materiellen Waffen, aber indem man das tut, wofür man geboren ist. Dieses Glück besteht nicht im Erfolg, nicht im Ruhm und selbstverständlich nicht im Besitz, sondern ganz allein in einer Seelenlage. Man kann es nicht schlicht genug ausdrücken. In Heiterkeit und Harmonie hat Jean-Henri Fabre, inmitten seiner Familie, im Umgang mit ganz wenigen Freunden, von denen noch berichtet wird, sein Lebenswerk geschaffen, eben die "Souvenirs entomologiques", einen Markstein in der Naturwissenschaft, die klassische Monographie über den Instinkt der Insekten, gültig noch heute für die Fachwissenschaft und lesbar für jeden.»*8
Guggenheim hat die bei Fabre erlernte neue Schreib- und Sehweise, die exakte Art geduldigen Beobachtens und die gelassene, heitere Grundhaltung, nicht nur literarisch umgesetzt, sondern auch immer wieder thematisiert und offengelegt. In «Riedland» beispielsweise, wo er die Hobby-Botanikerin Marie, die in der frühesten, ins Tagebuch integrierten Textfassung vielsagenderweise noch «E.» genannt ist, in einer sternklaren Nacht auf die für den Roman zentrale Formel kommen lässt: «"Lieben und die Welt verstehen." Marie wusste nicht, woher ihr diese Worte gekommen waren. Sie musste sie immer wieder und immer wieder vor sich hersagen, sie konnte nicht genug bekommen davon. Sie gingen in sie ein mit dem kühlen Strom, den ihr der Atem brachte, und sie füllten sie aus, dass sie den sachten Drang der Kleider an ihrem Körper zu spüren begann.»*9 Oder in «Wir waren unser vier», wo der jüdische Biologe Glanzmann dem Ich-Erzähler Loriol gegenüber als höchstes Ziel der wissenschaftlichen Forschung ganz im Sinne Fabres «die Wahrheit, die einfache, bescheidene Wahrheit, "plus dur que fer"» nennt und der Chronist zu seinem Unterfangen notiert: «So ist auch das, was ich hier niederzuschreiben im Begriffe bin, nichts anderes als der Versuch, das Leben einiger Weggenossen nicht künstlerisch, wie es die richtigen Schriftseller tun, sondern in jenem Geiste darzustellen, der über Glanzmanns biologischen Arbeiten waltet.»*10
Ihre vollkommenste Ausprägung aber fand die an Fabre geschulte Schreibweise des geduldigen, naturwissenschaftlich exakten Beobachtens und Beschreibens von Vorgängen, Gegenständen und Seelen im Zyklus «Alles in Allem», wo der Erzähler und Chronist ganz aus dem Geschehen zurücktritt und das Beobachtete quasi für sich selbst sprechen lässt. Dass das ganz bewusst und geplant geschehen ist, geht unter anderem aus einer Tagebuchnotiz Guggenheims vom 26.November 1950 hervor, wo es unter dem Stichwort «Zum Zyklus» heisst: «Fortwährend beschäftigt mich der Gedanke einer naturwissenschaftlichen Betrachtungs- und Darstellungsweise. Ich sehe und erkenne zum Greifen deutlich jene geistigen und beruflichen Familien, auf die es mir ankommt, Pflanzengesellschaften gleich. Zum Beispiel all das, was sich so um 1920 herum mit der Tanzschule Trudi Schoop abgespielt hat. Wie sie in der alten Kirche Fluntern tanzten.»*11
Für jenes «in der Freude Schreiben» aber, zu dem er sich in harten und entbehrungsreichen Jahren im Sinne seines Vorbilds Fabre durchgerungen hatte, gibt Guggenheim bzw. sein Alter ego Aaron Reiss im Roman selbst ein unmissverständliches, beredtes Statement und Bekenntnis ab. Dort nämlich, wo Aarons schriftstellerisches Credo und sein noch ungeborenes Werk dem Schaffen und der existentiellen Not von Albin Zollinger gegenübergestellt sind, der zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Wochen zu leben hat und der darum, Goethes «Tasso» variierend, in den Ausspruch verfällt: «Wir haben nichts, Aaron, als dies: dass uns ein Gott zu sagen gab, was wir leiden.»
Was Guggenheim sein Alter ego darauf antworten lässt, versetzt nicht nur diesen Aaron Reiss in einen unüberbrückbaren Gegensatz zum Tragiker Albin Zollinger, sondern überdies auch den Autor selbst in einen solchen zu jener ganzen Spielart schweizerischer Literatur, die wesentliche schöpferische Kräfte aus der Distanzierung und Entfremdung von ihrem Herkunftsland gewonnen hat: «"Aber ich leide ja nicht", rief Aaron, und es war ihm, als ergriffe ein anderer an seiner Stelle das Wort, "ich freue mich, ich freue mich meines Lebens, ich liebe es, ich bewundere die Menschen, einen jeden von ihnen, diese Frauen, diese Männer um mich herum, ich finde sie gross in ihrer Bescheidenheit, in ihrer Beharrlichkeit, in ihrem Irrtum, in ihren unablässigen Vesuchen, ihr Leben einzurichten. Mich kümmert es nicht, dass wir angeblich so dahinrasen in physikalischer Relativität! Die Planeten, die Atome, wunderbar, geheimnisvoll, göttlich, erschreckend, was du willst! Aber es geht mich nichts an. Ich lasse mich durch sie nicht in meiner Lebensfreude schmälern, am Atmen, am Lieben, am Sehen. Ob ich aus der Nacht der Zeit für eine Sekunde erwacht bin und dann wieder in die Nacht zurücksinke – was geht es mich an; diese Sekunde, dieses arme, klägliche, herrliche Leben, bei dem ich dabei sein durfte und in dem ich nicht allein war, sondern mit andern Menschen zusammen: darum geht es mir.»*12

Was bedeutet «Alles in Allem» ?

Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung, die das Vorbild Fabre für Kurt Guggenheim gehabt hat, so ist man nicht erstaunt, dass auch der Titel seines Summum opus vom französischen Entomologen herleiten lässt. Am 3.Dezember 1958, als er wieder einmal in Fabres «Souvenirs entomologiques» las, notierte er sich jedenfalls in sein Tagebuch: «"Tout est dans le tout, comme disait en son temps le pédagogue Jacotet." Ich lese diesen Satz bei Fabre, 5e série, p.245, und ich frage mich, ob es nicht dieser Satz gewesen ist, der mir, 1935 gelesen,den Titel "Alles in Allem" eingab um 1950 herum. Genau das bedeutet er nämlich, und nicht das "Summa summarum", wie viele annehmen.»*13
Was der Titel «genau» bedeutet, geht aber auch aus dieser Auskunft nicht verlässlich hervor, und es ist ja gerade das Besondere an diesen lapidaren drei Worten, dass sie sich nicht endgültig auf etwas Erklärbares festlegen lässt und im Unbestimmten, aber auf vieles Anwendbaren ihre schillernde Faszination ausüben.
So gibt es zunächst einmal eine ganz banale soziologisch-urbanistische Deutungsmöglichkeit. Diejenige, die Guggenheim am 17.Dezember 1950 in seinem Tagebuch ansprach: «Als Grundlage, als Leitidee für den "Zyklus": die Ökologie der Agglomeration (die gegenseitige Beeinflussung der einzelnen Glieder einer Gesellschaft und ihre Abhängigkeit von Umweltfaktoren; der Haushalt), das Alles in Allem. Kein menschliches Leben ist ein isoliertes Geschehen. Jeder Organismus steht unter den Einflüssen seiner Umgebung; er selbst aber ist ebenfalls wieder ein Einflussfaktor. Die Vergesellschaftung entscheidet sowohl über die Dauer einer Existenz, als auch über deren Möglichkeit überhaupt.»*14
Mit dem Fabre’schen Enthusiasmus versetzt, taucht diese soziologische Deutung auch im Roman selbst wieder auf. Da z.B., wo Aaron über sein erst geahntes Werk sinniert und es über seine Ahnungen heisst: «Es glitt wie Versprechungen an ihm vorüber: es sei und es warte ein Ungeformtes auf die Erlösung durch Worte, es müsse, über den Liebesgeschichten, über dem Streit um die Güter, über dem Aufstieg und dem Niedergang der Sippen, den Ängsten und den Hoffnungen der Leute, den Siedelungen und den Flüssen eine Beschwörung, eine Formel geben, die sie alle einschliesse, deute und erhöhe, nicht tragisch, nicht weinerlich und ohne Anklage, ein Ja, mit dem Mut in der Freude, nein, mit jubelnder Dankbarkeit ausgesprochen.»*15
Mindestens so wichtig und mit dieser soziologischen eng verknüpft ist die metaphysische Bedeutung des Titels, wie sie ebenfalls im Roman selbst an verschiedenen zentralen Stellen offengelegt wird. Da etwa, wo der Historiker Karl Gebhardt mit Clive Lawrence Bell über seine Dissertation spricht und letzterer daraus die Quintessenz zieht: «Wie es zusammenhängt und was es für das Ganze bedeutet, das wissen wir nicht. Aber dass alles zu gleicher Zeit und an diesem Orte geschieht, ach, es lässt uns doch ahnen, dass es in einer anderen Dimension zusammengehört und eine Bedeutung hat.» Worauf die Sätze folgen: «Karl betrachtete stumm den sich Ereifernden. Auch er spürt sie als ein Wesen, diese Stadt, dachte er, übermenschlich, metaphysisch, als das Geheimnis, das der Philosoph Häberlin als Wirklichkeit bezeichnet. "Was wir sehen, ist Gestaltung, Darstellung, Hinstellen vor unsere Blicke…" "Ja", sagte er, "hinter dem Zweckhaften und Zufälligen stellt die Stadt sich als ein Unternehmen dar, in dem wir uns zusammengefunden haben, um uns selbst, unscheinbare Wesen, in einer höheren Person aus der Zeit in die Dauer zu retten. In Jedem ist Jeder und Jedes, in Allem ist Alles.»*16
Paul Häberlin (1878–1960), der «ganzheitliche» Philosoph und Ontologe, für den in einer völlig individuierten Welt eine a priori angenommene Einheit des Seins als Ordnungsgrösse fungiert, kann in seiner Bedeutung für Kurt Guggenheim nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nicht nur, dass er in «Alles in Allem» als eine von wenigen Bezugsgrössen namentlich genannt und diskutiert wird. Auch in dem bereits zitierten «Artemis-Autorenheft» von 1945 wird er, und zwar als einziger zweimal, als Referenz zitiert: zusammen mit C.F. Wiegand, S.D. Steinberg und Adolf Guggenbühlals einer jener Menschen, die einen wichtigen Einfluss auf Guggenheims Entwicklung gehabt hätten. Und zusammen mit Schopenhauer und Edgar Dacqué als eine jener «Philosophen, Wissenschaftler und politischen Persönlichkeiten», die der Befragte am meisten schätze.
Die Formel «Alles in Allem» würde aber, metaphysisch begriffen, wenig überzeugen, wenn sie nur auf eine philosophische Lehre abgestützt werden könnte. Ihre eigentliche Kraft, Faszination und Überhöhung erhält sie erst durch den Bezug zur Bibel, zum Alten Testament, zum Prediger, zum Koheleth, zu jener religiösen Offenbarung also, in der sich die beiden Kulturkreise des Romans, das Judentum und das Christentum, auf höherer Ebene zusammenfinden. Wenn nicht alles täuscht, hat Kurt Guggenheim diese religiöse Komponente seines Unterfangens schon sehr viel früher als die soziologische bedacht und vorausgeahnt. Bereits am 27.April 1939, also kurze Zeit nach Beendigung von «Riedland», gibt es in seinem Tagebuch eine Belegstelle, die das Projekt Generationenroman ganz direkt – und in vielen später tatsächlich realisierten Facetten! – mit Koheleth/Prediger 3, 1-8, in Beziehung setzt: «Was herauskommen soll: der Rhythumus der Welt. Minutiöse Darstellung einiger Berufsrhythmen. Rudern. Gehen. Fischen. Lieben. Der Puls des Lebens. Diesem Rhythmus setzt der Mensch sein geistiges Leben entgegen. Dieses ist arhythmisch – abenteuerlich. Jedes Kunstwerk, jedes Gemälde ist der Kampf mit dem Rhythmus, die Störung des Rhythmischen. Die Lyrik. Erinnerung an den Koheleth, Abschnittstitel. / Geboren werden und sterben / pflanzen und ausrotten / würzen und heilen/ brechen und bauen / weinen und lachen / klagen und tanzen / Steine zerstreuen und Steine sammeln / herzen und ferne sein von Herzen / suchen und verlieren / behalten und wegwerfen / zerreissen und zunähen / schweigen und reden / lieben und hassen / Streit und Friede…»
Fünfzehn Jahre später,als Guggenheim im letzten Band von «Alles in Allem» jene Zeit behandelt, aus der die Tagebuchnotiz stammt, taucht der Gedanke mitsamt dem Bibel-Zitat wieder auf, wenn Aaron Reiss nachts in seiner Mansarde beim Nachdenken über sein erst geahntes Werk vom Berufspanoptikum der Landesausstellung her «die Rhythmen gemurmelter Sätze» zu hören meint, «deren Inhalt er nicht versteht.» «Noch war es kein Auftrag», heisst es dann über das literarische Vorhaben, das im Kern das gleiche geblieben ist, auch wenn die Verse des Koheleth nun nur noch unsichtbar über den Kapiteln stehen sollen, «noch war die Schicht der Luft zwischen seinem Ohr und der murmelnden Stimme zu dicht, als dass er mehr als ihren blossen Fall hätte vernehmen mögen; aber im Pochen des Herzens und gehobenen Atems spürte er, wo es hinauswollte. Eine Schau in die Welt zu tun, ihr nahe zu sein und ferne zugleich, ein Werk müsste es sein, über dessen Seiten als unsichtbare Titel des Predigers Worte standen, wie er sie, als Knabe, oben im Zimmer des Hauses zum Merkur, während er auf die belebte Bahnhofbrücke und den Leonhardsplatz hinabblickte, aus dem Munde des Sensals Rottweiler, vernommen hatte: Geboren werden und sterben, / pflanzen und ausrotten, / (…)/ lieben und hassen, / Streit und Friede / ein jegliches hat seine Zeit / unter dem Himmel.» *17

«Wie ein Mensch von Kindheit auf es erlebt…»

Das Kraftfeld eines Gemeinwesens in all seinen Facetten, das Biotop einer Stadt tritt dem Leser, bis es sich allmählich im einzelnen verdeutlicht, zunächst einmal als eine bunte, kaleidoskopartige, in ihrer Vielfalt und in ihrem Detailreichtum überwältigende Fülle entgegen. Das Boudoir einer Dame um 1900, eine Sitzung der städtischen Exekutive, das Röseligartenfest des Lesezirkels Hottingen, eine Schulstunde im städtischen Gymnasium, ein Pédicure-Salon vor dem 1.Weltkrieg, der Geflügelmarkt auf dem Augustinerplatz, die Scheinexistenz eines Schiebers, Kartenspieler in einem Café, eine spiritistische Sitzung, die Niederschlagung des Generalstreiks, das Automatenrestaurant an der unteren Bahnhofstrasse, eine Schafherde auf ihrer nächtlichen Wanderung durch die Stadt, der Autmarkt auf dem Beatenplatz, eine Liebesszene im Obduktionssaal, der Alltag auf einer Zeitschriftenredaktion, ein Schlittelnachmittag auf der winterlichen Fluntermer Allmend, eine Fahrt im verdunkelten Tram, der Aufmarsch der Nationalen Front, eine Hochzeit in einem Zunfthaus, ein Fussballspiel im Hardturmstadion, das Rollen des Kaputs am Vorabend der Mobilisation – all dies und unendlich viel mehr gesellt sich Mosaikstein um Mosaikstein zu einem Bild, das erst allmählich in jenen geheimnisvollen Zusammenhang zueinander tritt, den der Autor damit andeuten will. Was Kurt Guggenheim natürlich wiederum nicht zufällig «passiert» ist, sondern der sorgfältig berechneten, virtuos ausgeklügelten Ökonomie des Werks entspricht. «Was zu vermeiden ist: das Schematische und Planmässige», hatte er sich am 25. November 1950, also kurz vor Beginn der eigentlichen Niederschrift, ins Tagebuch notiert. «Dass im Beginn schon Absicht und Ablauf eines Komplexes sichtbar und erkennbar wird. Es muss sich so darbieten, wie ein Mensch von Kindheit auf es erlebt: chaotisch, unverständlich, undeutbar, ohne einen geistigen Inhalt, ohne Sinn. All das muss erst das Ensemble geben.»*18
Wobei aber gleich hinzugefügt werden muss, dass die einzelnen Passagen dieser kaleidoskopartigen Schau dank Guggenheims virtuoser filmischer Montagetechnik sehr wohl untereinander in Beziehung stehen und in ihrer Abfolge immer nur so weit voneinander entfernt sind, dass das Gedächtnis sie anhand vielfältiger Bezüge identifizierem und einem ganz bestimmten Strang im Bündel der nebeneinander verlaufenden, vielfach miteinander verknüpften Handlungen, Geschichten und Schicksale zuweisen kann. Aber auch für sich genommen, wirken die einzelnen Steinchen dieses immensen Mosaiks keineswegs amorph und eintönig. Aus einem bewundernswerten Einfallsreichtum heraus hat es Guggenheim verstanden, neben der reinen epischen Erzählung immer wieder neue, überraschende «Textsorten» in seine Chronik einzuführen: die Beschreibung einer Fotoreportage als Spiegelung des reprtierten Ereignisses, den Terinkalender eines Magistraten als Schlaglicht auf die politischen Probleme einer bestimmten Epoche, die Aussagen einer Wahrsagerin als Analyse der historisch-atmosphärischen Situation, den Klatsch in einem Schönheitssalon als Fortführung einer Geschichte mit anderen Mitteln, die Beschreibung von Händen als Ausdruck eines Menschen und seiner sozialen und beruflichen Befindlichkeit. Dazu kommt Guggenheims stupende Fähigkeit, immer wieder die Perspektive zu wechseln und zu variieren, so dass wir einzelne Phänomene, Geschehnisse und Figuren aus ganz veschiedenen Blickpunkten heraus sehen und beurteilen können: Zürich einmal aus der Optik eines Flaneurs, dann wieder mit den Augen eines Verliebten gesehen, von einem Anarchisten betrachtet, von einem Architekturkritiker begutachtet, von einem General und Strategen eingeschätzt, von einem Geologen erklärt, von einem Schafhirt erlebt und durchmessen.
Was die Vielfalt vor dem bloss Heterogenen, Beliebigen bewahrt, was einen auch das Entlegendste noch mit Interesse und wacher Neugier zur Kenntnis nehmen lässt, ist nun aber bei aller Bewunderung weder Guggenheims erzählerische Raffinesse noch seine Kunst der filmischen Montage, sondern die Liebe, das Wohlwollen, die Sympathie, mit welcher er das Dargestellte recht eigentlich beseelt und lebendig macht. Guggenheim zeigt das Allgemeine immer in der Ausprägung des Individuellen. Niemals stellt er die Geschichte lehrbuchhaft als solche dar,sondern immer aus der Erfahrung von einzelnen heraus, deren Entwicklung und Wandlung er ebenso geduldig beobachtet und protokolliert, wie sein verehrtes Vorbild Jean-Henri Fabre das Leben der Insekten erforscht hat. So gestaltet er, um ein Beispiel herauszugreifen, das wechselhafte Verhältnis der deutschen Schweiz und Zürichs zum grossen deutschen Nachbarland nicht einen Moment lang mittels Thesen, Theorien oder trockenen Analysen, sondern – nicht nur, aber vorwiegend – anhand des Schicksals von drei Romanfiguren. Der deutsche und später naturalisierte Unternehmer Gustav Meng gehört vor dem Ersten Weltkrieg zur selbstbewussten deutschen Kolonie Zürichs, die «ihren» Kaiser 1912 freudig unter den «Auslanddeutschen» begrüsst, setzt mit einer Kriegsanleihe fast sein ganzes Vermögen aufs Spiel, träumt 1933 für kurze Zeit nochmals den Traum vom (nationalsozialistischen) deutschen Grossreich mit, bis während des Zweiten Weltkriegs doch noch seine Sympathie zum unspektakulären, aber bescheideneren schweizerischen Dasein in ihm durchbricht. Der deutsche Schriftsteller Hans Trüssel, hinter dem sich zweifellos Bernard von Brentano verbirgt, gibt sich in der Schweiz zuerst als hitlerfeindlicher Emigrant aus, bis er sich als heimlicher Nazi-Anhänger entpuppt und ins nationalsozialistischen Deutschland zurückkehrt. Der Gärtnersohn Gotthold Wettstein, der das Leben eines ebenso ambitionierten wie talentlosen Intellektuellen lebt, gerät einen Moment lang in die Fänge der Nazis, die ihm zu Erfolg im Reich verhelfen wollen. Er sagt sich aber noch rechtzeitig von den neuen Freunden los und baut sich an der Seite einer jungen Frau eine ganz prosarische kaufmännische Existenz auf Existenz auf.

Von Generation zu Generation

Wie Wettstein und Meng wachsen im Verlauf des Romans viele weitere Figuren über die Fülle und Vielfalt hinaus und verkörpern, ohne in ihrer individuellen Zeichnung vernachlässigt zu sein, eine ganz bestimmte Erfahrung, ein für die Zeit typisches Schicksal oder eine charakteristische Geisteshaltung.
Guggenheim wollte von Anfang an einen Generationenroman schreiben, und erwartungsgemäss sind daher auch jene Gestalten deutlich herausgehoben und besonders einfühlsam charakterisiert, die für eine bestimmte Generation typisch sind oder den Generationenkonflikt besonders anschaulich verkörpern. Im Mittelpunkt des Ganzen steht die Generation der zwischen 1895 und 1905 Geborenen, also jene Generation, für die sich der Autor am kompetentesten fühlt. Sie wird bei aller individueller Verschiedenheit zusammengeschweisst durch eine «Verschwörung der Alten», die jedoch nicht im Roman, wo sie bei den verschiedensten Gelegenheiten mit Händen zu greifen ist, sondern nur in Guggenheims tagebuchartigen Vorarbeiten explizit so benannt wird. «Das Unbewusst-Revolutionäre und Drängende hat ursprünglich keine sachlichen, sondern nur gefühlsmässige Motive. Richtet sich zuerst gegen die eigene Familie. "Das Geheimnis ist die Verschwörung der Alten." Vollständig unverständlich. Was wollen sie eigentlich? Welches ist ihre Absicht, ihre Ziel? Die Jugend kommt nicht vor als Vertreterin des Altruismus. Kein Verständnis für Erwerb mit Besitz. Wird ihnen als eine Gegebenheit dargestellt. Die Jugend hat ein enges Weltbild. Sie glaubt aber, die Alten seien engstirnig; sie nimmt ihr überbordendes Gefühlsleben für Weltweite.»*19
Kurt Guggenheim hat schon in «Entfesselung», «Sieben Tage», «Riedland» und «Die heimliche Reise» Figuren dargestellt, die gegen die Elterngeneration aufbegehren und in die Welt hinaus ziehen. Zu Peter Quirin, Karl Meidenholz, Dionys Bieli und Sylvester Eigenmann gesellen sich in «Alles in Allem» jetzt die drei Schulkameraden Gotthold Wettstein, Walter Abt und Aaron Reiss sowie der Bündner Forstingenieur Reto Arquint, die alle woandershin aufbrechen, um, enttäuscht von der normierten, unbewegelich gewordenen Welt ihrer Väter, einen gesellschaftlichen Neubeginn zu suchen.
Walter Abt, der Sohn des gleichnamigen bürgerlichen Stadtrats, macht seine Erfahrungen in Amerika und wird, wenn er Ende der zwanziger Jahre von da zurückkehrt, in der Zeitschrift «Wir» den amerikanischen Way of Life mit traditionell schweizerischen Eigenarten zu verbinden suchen. Gotthold Wettstein trägt seinen Generationenkonflikt ins grossstädtische Berlin und kehrt als seiner Herkunft entfremdeter Literat nach Zürich zurück, um seine Intellektuellen-Allüren noch einige Jahre lang als Stammgast des «Odeon» weiterzupflegen. Auch Aaron Reiss, der seine Lehrjahre in Paris verbracht hat, gefällt sich nach der Rückkehr, obwohl er die Arbeit im väterlichen Geschäft pro forma noch weiterführt, ebenfalls als Dandy und Kaffeehausliterat, bis er nach dem frühen Tod des Vaters den ungeliebten Kaufmannsberuf ganz an den Nagel hängt und den beschwerlichen Weg eines freien Schriftstellers und Künstlers einschlägt. Reto Arquint schliesslich schafft das, was Aaron Reiss, wiewohl er es aus Liebe zu Jacqueline Voubrasse eigentlich hätte tun wollen, zuletzt doch nicht übers Herz bringt: den Militärdienst zu verweigern und damit sein Rebellentum für jedermann sichtbar zu machen. Arquint ist Anhänger einer der beiden Leitfiguren, die der rebellischen Jugend ideologischen und moralischen Rückhalt bieten: des im Roman unter eigenem Namen auftretenden religiös-sozialen Pfarrers und Professors Leonhard Ragaz (1868–1945). Die andere alternative Instanz ist der Anarchist und Arzt Fritz Brupbacher(1874–1945), dem Guggenheim mit der Figur des Arztes Bluntschli eine bewegende literarische Hommage dargebracht hat. Obwohl eigentlich nur eine Nebenfigur, ist dieser Bluntschli eine der originellsten und in ihrer innerern Zerrissenheit und ihrem selbstlosen Engagement überzeugendsten Gestalten von «Alles in Allem». Eine Gestalt übrigens, die wie viele andere – Karl Gebhardt, Hirzel, Bell, Laubscher, Arquint – immer wieder mal auch mit der Stimme des Autors spricht und so dazu beiträgt, dass die Botschaft des Buches nicht nur diejenige des Alter ego Aaron Reiss, sondern eine allgemeine, über alle Individualitäten hinausgehende ist. Bluntschli, und nicht Aaron Reiss, ist es in diesem Sinne vorbehalten, das im Titel verborgene Generalthema des Buches überhaupt erst einmal anzustimmen und den geheimen Zusammenhang in all dem zu ahnen, was ihm an Unverbundenem, Vereinzelten entgegentritt: «Chaotisch legt sich Bild auf Bild, wuchert Gedanke neben Gedanke, und mitten darin wie ein Trödler stehe ich und denke, dass es einen Zusammenhang haben muss, um einen Sinn zu bekommen…»*20
Nicht nur die Männer, auch die Frauen begehren gegen die vorangehende Generation auf, und es scheint fast, als beweise Guggenheim bei ihrer Darstellung sogar noch die glücklichere Hand und das grössere Einfühlvermögen als bei den männlichen Protagonisten. Da ist z.B. diese Katharina Gebhardt, geborene Meng. Gerade weil ihr der Ausbruch letztlich nicht gelingt und der Konflikt mit dem Elternhaus ihr am Ende ein – keineswegs unabhängiges! – Leben voller Schwermut, Frustrationen und Depressionen beschert, erscheinen das Schicksal und der Charakter dieser Figur ganz besonders glaubwürdig und ergreifend gezeichnet. Wie sie nach anderen Fluchtversuchen das reiche, aber bigotte Vaterhaus aus Liebe zu dem trockenen Buchbinderlehrling und späteren Gymnasiallehrer Karl Gebhardt verlässt, wie die beiden im Haus an der Wasserscheide die private Rebellion einer Konkubinatsbeziehung durchexerzieren, wie sie nach der Geburt von zwei Kindern in schwerer Zeit allmählich in die Abhängigkeit von Katharinas reichem Elternhaus geraten, wie die junge Frau vergeblich aus der schliesslich doch noch legitimierten Beziehung auszubrechen sucht und wie der revolutionäre Impetus zuletzt endgültig dem bürgerlichen Alltagstrott, den drohenden Existenzsorgen und der Langeweile Platz macht – das alles ist, Phase für Phase hineingestellt in die sich rasch wandelnden gesellschaftlichen und familiären Bedingungen zwischen der Jahrhundertwende und den späten dreissiger Jahren, schlicht grossartig und hätte von Guggenheim wohl kaum in dieser Authentiziät und Eindringlichkeit gezeichnet werden können, wenn ihm nicht Facetten und Momente einer aus nächster Nähe miterlebten «wahren Geschichte» zur Verfügung gestanden wären. *21
Persönliche Eindrücke und Erinnerungen konnte der Verfasser auch für die zweite dieser rebellischen Frauenfiguren, für Jacqueline Fries, geborene Voubrasse, verwenden, hinter der sich niemand anders als Guggenheims Jugendliebe und spätere Muse und Mentorin Eva Welti-Hug verbirgt. Sofern wir zunächst einmal von ihrer Beziehung zu Aaron Reiss und von der Bedeutung, die sie für ihn und sein geplantes Werk erlangen wird, absehen, so präsentiert sie sich von allem Anfang an als überzeugendes Beispiel einer gegen die gesellschaftlichen Zwänge und Normen aufbegehrenden weiblichen Intellektuellen. Sie besucht die anarchischen Vorträge des Armenarztes Bluntschli, setzt sich anlässlich der über Zürich geführten Verwundetentransporte im Ersten Weltkrieg und während der grossen Grippe-Epidemie von 1918 selbstlos für Kranke und Notleidende ein, versucht Aaron zur Dienstverweigerung zu bewegen, verweigert sich einer brillanten medizinischen Karriere und zieht als Armenärztin ins Industriequartier, wo sie Emigranten und Verfolgten hilft und, getrennt von ihrem Mann, das Leben einer alleinstehenden, unabhängigen Frau und Berufstätigen lebt.

Der Einzelne und die Gemeinschaft

«Zur Zeit, da ich "Alles in Allem" schrieb, also in den Jahren 1950 bis 1955, habe ich natürlich sehr viel über die Stadt Zürich nachgedacht. Sie erschien mir als ein Wesen, geformt von der Natur und den Menschen, zugleich aber sowohl die Menschen wie die Natur formend.»*22
Die Worte deuten an, dass die Formel «Alles in Allem» keineswegs bloss statisch, im Sinne eines innerlich verbundenen gemeinsamen Daseins bzw. einer Zusammenschau, sondern durchaus auch motorisch, aktiv, im Sinne eines Zusammenfindens und Hineinfindens in ein bestehendes und sich entwickelndes Ganzes, gemeint ist. Die Stadt nimmt fremde, neue Elemente in sich auf, integriert sie im Verlaufe der Zeit, und ihr Unverwechselbares, Spezifisches besteht gerade darin, dass sie sich aus den verschiedensten, in einem je wieder anderen Stadium der Assimilierung befindlichen Teilen besteht. Ob sie nun von aussen kommen oder in der Stadt selbst zur Welt gekommen sind: praktisch alle Figuren von Guggenheims Roman machen Wandlungen in Richtung einer stärkeren Einbindung in das Ganze bzw. einer dauernden oder bleibenden Ablösung oder Entfremdung von der Gemeinschaft durch, und es gibt kaum eine Gestalt, die sich nicht dem Grad ihrer Assimilation nach bestimmen und einordnen liesse. Der Anarchist Bluntschli z.B. arbeitet, auch wenn er den Misserfolg seines Bestrebens mit einem wissenden Lächeln zu quittieren pflegt, im Grunde darauf hin, die bestehenden Strukturen zu zerstören und durch die Utopie einer absoluten Freiheit und Gerechtigkeit zu ersetzen. Und doch bildet er mit seiner Aufklärungsarbeit, seinem Einsatz als Armenarzt und seinen unbequemen Thesen und Erkenntnissen innerhalb des gesellschftlichen Prozesses ein unverzichtbares Ferment, das das demokratische Bewusstsein wachhält und so letztlich zur Stabilisierung beiträgt. Gustav Meng andererseits, der Vertreter der «Deutschen in der Schweiz», will das Alpenland am deutschen Grossmachttraum teilhaben lassen und sträubt sich jahrzehntelang gegen die Integration im schweizerischen Provisorium. Bis er dann gegen Ende des Romans, bei der Entlarvung des Nazi-Spions Rüssel, unwillkürlich in den Zürcher Dialekt verfällt und so jene «Verzürcherung» offenlegt, die sich unbewusst schon lange in ihm vorbereitet hat.
August Merkli wiederum, der Proletarier und Bluntschli-Schüler aus Aussersihl, macht unter marxistischem Vorzeichen genau jene Entwicklung vom Extremismus zur Mitte durch, die der Gärtnersohn Gotthold Wettstein als zeitweiliger Nazi-Anhänger von rechts her durchlebt: vom Anarchismus abgekommen, wird er in den zwanziger Jahren der ergebene Gehilfe eines zwielichtigen Schiebers, legt wenig später seine Mitbürger mit fragwürdigen Autoverkäufen aufs Ohr und findet 1936 im Abenteuer des Spanischen Bürgerkrieg zur revolutionären Gesinnung zurück. Heimgekehrt, findet er den gewandelten Zeiten entsprechend ein Auskommen als Löschsandhändler für Luftschutzkeller und arbeitet sich auf dieser Basis schon bald zu einem erfolgreichen, massvoll in die Gesellschaft integrierten Altstoffhändler empor. Clive Lawrence Bell, der englische Globetrotter, bleibt per Zufall in Zürich hängen und entwickelt bei aller Skepsis und Reserviertheit als verbummelter Stadtwanderer und Flaneur allmählich ein nahezu zärtliches Verhältnis zu der Stadt, die ihn, fast beiläufig und ohne dass er seinem Outsidertum abschwören müsste, auch zivilstandsamtlich zu ihrem Bürger macht. «Wir gehören zu ihnen», lässt Guggenheim den andern Outsider, den versoffenen, aber genialischen Architekten René Hirzel, einmal sagen, «aber nicht auf ihre, doch auf unsere Weise, so, wie wir sind. Dass diese Männer in der bürgerlichen Abteilung des Stadtrates Sie aufnahmen, sie mochten auf ihre gesetzte und vernünftige Weise es vor sich selbst begründen, aber glauben Sie mir, es war die Stadt, die durch ihre Protokolle und Schriftsätze hindurch einen ihnen selbst unverständlichen Sinn kundgab: dass sie fremder, liebender Augen bedarf, um mit ihrem Geheimsten und Abenteuerlichsten Gestalt zu werden.»*23
Am schönsten, am bewegendsten und in geradezu modellhafter Weise hat Kurt Guggenheim die Begegnung zweier Kulturkreise bzw. die Einordnung des Fremden ins Heimische am Beispiel des jüdischen Zürich aufgezeigt. «Alles in Allem», das ist immer zugleich auch die Geschichte der Zürcher Juden. Und dennoch ist es ebensowenig ein jüdisches wie es im einengenden Sinne ein zürcherisches Buch ist. Zürich steht darin Modell für eine humane urbane Gemeinschaft, das Judentum für das Phänomen der Integration und Sozialisation in all seinen Nüancen, Facetten und Weiterungen.
In einprägsamen Figuren und atmosphärischen Milieuzeichnungen führt uns Guggenheim das Zürcher Judentum in seinen verschiedenen Fraktionen und Ausprägungen, aber auch in seinem historischen Wandel vor Augen.
Da sind zunächst einmal die unmittelbar nach 1862, nach der politischen und bürgerlichen Gleichstellung, eingewanderten Surbtaler Juden, die in Wirklichkeit die Namen Braunschweig, Guggenheim, Dreifuss, Moos, Bollag, Wyler, Pikart, Gideon, Bernheim, Bloch, Oppenheim und Weil tragen und die im Roman am bildkräftigsten und plakativsten durch den Sensal (Liegenschaftenhändler) Abraham Rottweiler und seine Familie verkörpert werden. Als Zuzüger der ersten Generation, der in der Jugend noch mit dem Hausiererkorb in die damals den Juden noch versperrte Stadt vorgedrungen war, kommt er bis fast zuletzt, als er mit der Stiftung eines Altersheims für blinde Stadtbürger sein endlich gefundenes Vertrauen andeutet, weder von den Erinnerungen an die erlittene Geringschätzung noch von den dagegen eingeübten Beschwörungen und Abwehrmechanismen los: «In der Tiefe brodelten noch immer die Gefühle der Kränkung, der Angst, des Hochmuts, der Auserwähltheit und der Verachtung der Andersgläubigen – das Gepäck auf der ruhelosen Wanderung in der Zerstreuung über die Erde.»*24
Den Westjuden, also den um Zuzüger aus dem Elsass vermehrten, bereits vor 1890 in der Schweiz lebenden Juden, die Guggenheim ausser durch Abraham Rottweiler auch durch die Familie Reiss und durch den Beau und «Schlemihl» Léon Loeb vertreten sein lässt, stehen die Ostjuden, also die Repräsentanten der vor der zaristischen Willkürherrschaft zwischen 1890 und 1914 nach Westen geflohenen jüdischen Russen oder Polen gegenüber. Guggenheim hat diese Einwanderer und die verschiedenen Spielarten ihres Verhaltens am Beispiel der weitverzweigten Familie Gidionovics dargestellt, die in zwei Gruppen aus Polen in die Schweiz eingewandert ist. Leib Gidionovics, der ersten Gruppe zugehörig, gründet an der Grenze zu Aussersihl eine Schürzenmanufaktur, die der Familie allmählich einen soliden Wohlstand und allgemeine Wertschätzung einbringt, obwohl sie, um den Mittelpunkt von Stammmutter Rebekka geschart, die spezifisch jüdische Lebensweise und die Pflichten der Religion skrupelhaft beibehält. Stärker als sein Vater fühlt sich Leibs ältester Sohn Joseph den Traditionen des östlichen Judentums verpflichtet. Er ist es denn auch, der im Gespräch mit dem Westjuden Aaron, auf den er 1914 in der Rekrutenschule trifft, den Gegensatz zwischen den zwei Richtungen am harschesten auf den Punkt bringt: «Er, Aaron, sei offenbar auch einer jener Assimilationsjuden, die Herkommen und Mission ihres Volkes vergessen hätten und aufgehen wollten in der Masse der Andersgläubigen. Der Unterschied zwischen Ostjuden und Westjuden sei ja noch grösser als zwischen Deutschen und Franzosen. Und sie, diese Westjuden aus dem sephardischen Arm des semitischen Stromes, seien fast noch die grösseren Widersacher der armen Ostjuden askenasischer Herkunft als die Christen.»*25 Ganz anders als Joseph verhält sich Isi, Leibs jüngster Sohn. Der Musiker und Musiklehrer empfindet sein Judentum eher als Belastung denn als Glück, vermag es aber, motiviert durch die Liebe zu seiner Schülerin Vera Gebhardt, in der Zeit der Bedrohung mit einem freiheitlich-liberalen Schweizertum in Einklang zu bringen.
Von einer «Verzürcherung», wie sie Leib Gidionovics und seine Familie trotz Beibehaltung der jüdischen Identität an sich erfahren, kann im Falle von Ruben Gidionovics, Leibs Bruder, nicht die Rede sein. Ruben, der später als Leib in die Schweiz kommt und mit Hilfe seines Bruders eine Warenhalle eröffnet, kann mit Leibs vorsichtiger, seriöser Geschäftspraxis nichts anfangen, sondern stürzt sich in finanzielle Abenteuer und sucht mittels Ramschverkäufe schnell zu Geld zu kommen. Wirtschaftlich ruiniert, bringt er, als die Bedrohung durch den antisemitischen grossen Nachbarn immer grösser wird, keinen Glauben an die Überlebenskraft des schweizerischen Wirtschaftssystems und der schweizerischen Demokratie auf und wandert 1939 nach Amerika aus. Für Leib und seine Familie aber – und damit auch für Guggenheims Roman – bedeutet das Jahr 1939 in Sachen Integration einen Höhepunkt. Während draussen der Luftschutz probt, heiratet in einem Zürcher Zunfthaus Isi Gidionovics die Tochter des Gymnasiallehrers Karl Gebhardt und von Katharina Gebhardt-Meng, die Enkelin von Gustav Meng also, so dass die jüdische Familie Gidionovics sich nicht nur mit einem Zürcher Geschlecht, sondern zugleich auch mit einem Zweig jener so ganz anderen deutschen Immigration verbindet, die in Gustav Meng verkörpert ist. Was Karl Gebhardt, hier unverkennbar die Stimme des Autors, als eine Wirkung jener formenden Kraft zu diagnostizieren weiss, die die Stadt auf ihre Bewohner ausübt: «Sind Geburt und Herkommen ein Schicksal, das wir, weil wir darauf keinen Einfluss haben, wie einen Zufall empfinden, so bedeutet der Ort, an dem wir leben, eine Wahl. Das aber ist kein blinder Zufall mehr, sondern unser Wille. Dies ist die höhere Klammer, die unsere beiden fremden Sippen zusammenhält: dass wir in dieser Stadt leben, dass wir in ihr die uns gemässe Luft gefunden haben, dass wir in ihr zu Hause sind. Das ist Gegenwart, Wirklichkeit, stärker als alle Vergangenheit.»*26
Die erzählerische Präsentation jüdischer Verhaltensweisen und Schicksale zwischen zionistischem Rigorismus, das spezifisch Eigene bewahrender Integration und der Assimilation unter Preisgabe der Identität wird vertieft und überhöht durch die Erfahrungen und Entwicklungen eines Protagonisten, der zwischen all dem steht und hinter dem sich zu einem wesentlichen Teil der Autor selbst verbirgt. Aaron Reiss wächst in eine Familie hinein, über die wie ein alttestamentlicher Prophet der alte Sensal Rottweiler mit seinem «Ist das gut für die Juden?» wacht. Als er dem Handelsherren auf Geheiss seines Vaters aus Geroldswil eine Kuh zutreiben muss, erlebt der kleine Judenbub in der Konfrontation mit seinen Klassenkameraden und deren Verhöhnung erstmals, was es heisst, einer wenig geliebten Minderheit anzugehören. Die Erfahrung wiederholt sich, als ihn Jahre später die heimlich geliebte Jacqueline auf dem Weg zur Synagoge erblickt und sich demonstrativ von dem fremdartig gekleideten jungen Mann ab- und seinem Rivalen Gotthold Wettstein zuwendet. «Wie angewurzelt blieb er stehen», heisst es dann, «sah noch, wie Gotthold, auf eine Frage oder eine Bemerkung Jacquelines hin, mitten aus eifrigem Gespräch heraus, den Kopf wandte und ihn mit den Augen suchte, und dann gingen sie schon davon, fremd, normal, sorglos und unauffällig, Angehörige, ja Komplizen in einer anderen Welt, aus der er, Aaron, für immer schicksalshaft ausgeschlossen war.»*27
Nicht sein tüchtiger Vater und auch nicht der würdig-gravitätische Sippenälteste Rottweiler ist für den jungen Aaron ein denkbares Vorbild. Wenn überhaupt, möchte er dem charmanten Leichtgewicht Léon Loeb nacheifern, der seine Zeit mit dem Lesen französischer Zeitschriften, etwas Kunsthandel und als Begleiter schöner Frauen verbringt. Und tatsächlich tritt er dann ja aus Trotz gegen den Vater und aus Frustration über den ungeliebten Kaufmannsberuf auch tatsächlich in die Fussstapfen dieses «Schlemihl» und verkommt zum Kaffeehausliteraten und Dandy, während seine Schulkameraden undJacqueline Voubrasse längst ernsthaft an ihr berufliches Weiterkommen denken. «Ich trete aus», sagt er zu Rechtsanwalt Fineisen, als dieser bei der Liquidation des väterlichen Geschäfts eine unbedachte Bemerkung über die Juden macht, und es bleibt dabei absichtsvoll offen, ob Aaron das Judentum oder das verlogene Wirtschaftsleben im Auge hat: «Ich will Ihnen offen bekennen, Herr Dr. Fineisen, es ist dieses "bei eueren Leuten", das mir am meisten zu schaffen macht, gerade in letzter Zeit. Ich mache nicht mehr mit, ich trete aus! Wenn euresgleichen ein Geschäft vorschlägt, so setzt man die Wohlanständigkeit voraus; uns gegenüber ist es das Gegenteil. Wir müssen sie immer zuerst beweisen. Ein jüdischer Liegenschaftenvermittler! Achten Sie auf den Tonfall! Zum vornherein: ein Parasit, ein Schmarotzer an der Gesellschaft. Ich habe es satt.»*28 Jacqueline, als er den Ausruf ihr gegenüber mit fast den gleichen Worten wiederholt, versteht ihn sofort richtig und fragt: «Ist es um des Werkes willen?»*29 Denn sie weiss sehr wohl, dass etwas sehr Wesentliches den Dandy Aaron vom Dandy Léon unterscheidet: das Werk, der sinnstiftende Generationenroman, den dieser schreiben will. Und erst wenn er
von allen Bindungen und Abhängigkeiten – auch denjenigen an seine jüdische Herkunft und Familie – frei ist, wird Aaron das Buch scheiben können, das nicht nur seine Vaterstadt, sondern auch und gerade deren jüdische Bürger und ihr Verhältnis zu ihr auf einer höheren Ebene modellhaft-visionär darstellen soll.

Dichtung und Wahrheit

Während seines Erscheinens und in den Jahren danach war es zumal für das zürcherische Lesepublikum ein beliebtes Spiel, hinter den Figuren von «Alles in Allem», sofern sie nicht ohnehin mit ihrem richtigen Namen in Erscheinung treten, die entsprechenden Vorbilder auszumachen. Zweifellos hat Guggenheim, der bei der Gestaltung eines Charakters gerne ein wirkliches Gesicht vor sich sah, über die namentlich genannten hinaus noch weitere identifizierbare Modelle benutzt: C.F. Wiegand für Professor Wude, Emil Bührle für den Maschinenfabrikanten Trostel, Bernard von Brentano für den falschen Asylanten Hans Trüssel, den Friedensapostel Dätwyler für den Friedensprediger Eidenbenz, Schweizerspiegel-Co-Herausgeber Fortunat Huber für Reto Arquint, dessen Compagnon Adolf Guggenbühl für den Zeitschriftengründer Walter Abt. Und doch: ein Schlüsselroman ist «Alles in Allem» nur in einem sehr oberflächlichen Sinn, und was Guggenheim an Persönlichem und Allerpersönlichstem in sein Buch hat einliessen lassen, ist so gut integriert und verschlüsselt, dass es erst durch eine genaue Analyse und durch Vergleiche mit seinen anderen Werken und autobiographischen Texten identifiziert werden kann.
Eine, wenn nicht d i e bedeutendste autobiographische Komponente des Werks hat der Schreibende bereits im Nachwort zum ersten Band der vorliegenden Guggenheim-Werkausgabe ausführlich beschrieben und analysiert: die platonische Liebesgeschichte zwischen Eva Welti-Hug und Kurt Guggenheim, die bis zuletzt in fast allen Werken des Autors Spuren hinterlassen hat und die in «Alles in Allem» der Beziehung zwischen Aaron Reiss und Jacqueline Voubrasse Pate gestanden hat. Eva Welt-Hug, mit der Guggenheim in grossen Intervallen immer wieder Kontakt hatte und die 1935 auch als Mentorin für seinen an Fabre orientierten literarischen Neuanfang in Erscheinung trat, hat, um hier nur ein einziges Zeugnis zu zitieren, dem Partner jener kurzen sommerlichen Romanze am 14.Oktober 1918 in ihrem Absagebrief tatsächlich indirekt den Auftrag zu seinem Werk erteilt: «Aber gibt es nicht noch ein anderes Glück, das vielleicht noch grösser und stärker ist, weil es schmerzlich errungen werden muss: das Glück im Schaffen, in der Hingabe an eine Idee und Aufgabe. Und dieses Glück wirst du sicherlich erfahren, ich glaube fest daran.»*30

Anders als in den vorangehenden und nachfolgenden Werken, die gleichfalls von der platonischen Liebesgeschichte zu Guggenheims Muse Eva Hug mit inspiriert sind – «Ergänzung zum Protokoll» (1931), «Entfesselung» (1935), «Sieben Tage» (1936), «Riedland» (1938), «Wir waren unser vier» (1949) bzw. «Sandkorn für Sandkorn» (1959), «Die frühen Jahre» (1962), «Salz des Meeres, Salz der Tränen» (1964) –, spielt für «Alles in Allem» noch eine weitere, in keinem anderen Werk thematisierte persönliche Erfahrung eine Rolle, die sein Verhältnis zum Judentum und damit zu einem Hauptgegenstand des Buches nachhaltig geprägt hat.
Nachdem er sich intensiv mit Paul Häberlin, Martin Buber und Henri Bergson beschäftigt hatte, beteiligte sich der junge Kaufmann und dilettierende Literat Kurt Guggenheim in den zwanziger Jahren aktiv an der Diskussion über die Zukunft des Judentums, bei welcher naturgemäss die Frage «Assimilation Ja oder Nein» eine entscheidende Rolle spielte. Am 14.April 1926 hielt er in der «Vereinigung für soziale und kulturelle Arbeit im Judentum» unter dem Titel «Von der Psyche der Juden»
einen Vortrag, der als sein frühestes einzelnes Werk im Selbstverlag dieser Organisation gedruckt wurde. Als seine ehemaligen Schulkameraden Guggenbühl und Huber den «Schweizer Spiegel» gründeten, luden sie Guggenheim zur Mitarbeit ein und baten ihn unter anderm auch, einen Beitrag über das moderne Judentum zu schreiben. Die Arbeit erschien im «Schweizer Spiegel» vom Januar 1930, hiess «Anders als die andern» und befasste sich unter Anlehnung an den erwähnten Vortrag nicht nur mit der Assimilation und der Integration, sondern auch mit der jüdischen Heiratspraxis und der Stellung der jüdischen Frau.
Für den Autor selbst überraschend, wurde der Artikel in tonangebenden jüdischen Kreisen als skandalös und völlig unzumutbar empfunden. Führende Exponenten nahmen in Gegendarstellungen und Leserbriefen gegen Guggenheim Stellung, und die Zurückweisung des Chefredaktors des «Israelitischen Wochenblatts der Schweiz», Erich Marx, gipfelte in der zweiten Nummer des Jahres 1930 in der Feststellung, dass der Artikel «eine Gefahr für das gute Verhältnis zwischen Juden und Christen» darstelle: «Der Christ, der aus Guggenheims Artikel Kenntnisse vom Juden gewinnt, muss zwangsläufig den Juden für minderwertig halten, für einen Untermenschen, und er muss Antisemit werden, wenn er es nicht ist. Eine bessere Unterstützung, wie zügige Phrasen solcher Art, aus dem Munde eines Juden, kann sich der Antisemitismus nicht wünschen.»
Die Wunden,die diese Auseinandersetzung schlug, sassen tief. Nicht nur bei den orthodoxen jüdischen Kreisen Zürichs, wo Guggenheim nach Auskunft der bekannten Jiddisch-Forscherin Florence Guggenheim-Grünberg *31 das Odium des Nestbeschmutzer bis zuletzt nie wieder los wurde, auch in Kurt Guggenheim selbst muss, obwohl er nach dem unerquicklichen Vorfall äusserlich zur Tagesordnung überging, die Verurteilung und Verunglimpfung durch seine jüdischen Mitbürger intensiv und nachhaltig weitgergwirkt haben. So intensiv, dass er den Roman «Alles in Allem» unter anderem auch deshalb schrieb,weil er den damaligen Schaden auf spektakuläre Art und Weise wiedergutmachen wollte!
Bei genauem Hinsehen entpuppt sich nämlich, was seine jüdische Komponente betrifft, «Alles in Allem» als eine grandiose Wiederaufnahme und Apotheose jenes unscheinbaren Artikels von 1930. Ja, doch, die Juden sind anders als die andern, heisst die Losung nun. Aber ihr Anderssein hat innerhalb dieses «Alles in Allem» seinen ganz bestimmten Platz und seine ganz bestimmte, für das Ganze wesentliche Bedeutung.
In dem Aufsatz von 1930 hat Guggenheim eine Reihe jüdischer Figuren von «Alles in Allem» bereits mit detailierten Konturen vorgezeichnet: den Schlemihl z.B., den er in Léon und im jungen Aaron auferstehen lassen wird: «Nicht, dass es ihm etwa an Intelligenz gebräche, aber es fehlt ihm der dynamische Impuls seiner betriebsamen Glaubensgenossen; er ist beredt, das geistige Leben zieht ihn an, er hat Gefühl und Sinn für das Schöne, aber er ist indolent, unschöpferisch, er ist ein tatenloser Zigarettenraucher, eine Kaffeehausnatur.» Oder den Immigranten der ersten Generation, der noch nicht seiner neuen Heimat, sondern nur dem Geld vertraut: «Geld allein verschafft ihm Ersatz für all das, was er kraft seines Schicksals nie haben konnte: das Bewusstsein der Heimat, der Bodengenössigkeit, des nationalen Stolzes, den "guten" Namen, innerliche, volksmässige Verbundenheit mit den Menschen des täglichen Verkehrs…»
Die jüdischen Mädchen und Frauen sind in «Alles in Allem» ausgesprochen stiefmütterlich behandelt, und Jacqueline, die Muse des fiktiven Erzählers, ist nichtjüdischer Herkunft. Aber auch das könnte mit dem Aufsatz von 1930 etwas zu tun haben, war doch der Hauptangriffspunkt gegen Guggenheim seine unkonventionelle, kritische Darstellung der jüdischen Frau. Ein Thema jedenfalls, mit dem er sich ganz offenbar kein zweites Mal in die Nesseln setzen wollte…
Das Erstaunlichste an dem frühen Aufsatz aber ist Guggenheims Stellungnahme zur Frage «Assimilation oder Integration?». Der Verfasser kann sich weder mit der Assimilation befreunden («Der bewusste Assimilant scheint mir sich wider die menschliche Würde zu versündigen.»), noch scheint ihm der Zionsmus eine günstige Lösung zu sein. Als Bürger der Schweiz habe er «zuviel von europäischem Geiste geatmet, um es nicht wie eine seelische Einschränkung zu empfinden, dass die Juden ihre Geschicke nochmals an ein Territorium binden wollen.» Guggenheim plädiert daher für einen dritten Weg zwischen Zionismus und Assimilation. Und das ist genau der Weg, den er ein Vierteljahrhundert später seinen Aaron Reiss gehen lassen wird: «die Inkonvenienzen des heutigen Daseins hinnehmen, das Schicksal tragen und nicht eben stolzer und nicht eben trauriger über die Interpretation sein, die das Leben der alten jüdischen Vorstellung von der "Auserwähltheit" gegeben hat».

Wie sein Aaron Reiss, der sich mit seinem «Ich trete aus!» aus allen offiziellen Bindungen löst, hat auch Kurt Guggenheim selbst dem Judentum gegenüber bei aller Solidarität und schicksalshafter Gemeinsamkeit seit jener Konfrontation von 1930 eine Position der Distanz eingenommen. Und nur so, indem er auch das Judentum gleichzeitig von fern und von nah, von innen und von aussen zu sehen vermochte, konnte er es in jenem Fremdseins im Eigenen und in jenem Heimischwerden im Fremden vorführen, das nicht nur für das Zürich der ersten Jahrhunderthälfte, sondern für die ganze aufgewühlte Welt des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts als Modell für eine humane, respektvolle Kulturbegegnung dienen könnte. Ganz so, wie Georg Simmel es bereits 1908 formuliert hat, als er im Fremden nicht mehr «den Wandernden» erkennen wollte, «der heute kommt und morgen geht», sondern «sozusagen den potentiell Wandernden, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.»*32