Aufstieg und Fall eines Dissidenten: Günter Grass (16. Oktober 1927 - 13. April 2015)

«Ich lüge haltbare Wahrheiten zusammen», sagte Günter Grass am 7.Dezember 1999 in der Nobelpreisrede. Nicht das wiedervereinigte Deutschland, das die Kunde seltsam zwiespältig aufnahm, sondern das heute polnische Danzig, wo Grass am 16.Oktober 1927 zur Welt kam, und Kalkutta, wo er seit 1986 unzählige Freunde besitzt, freuten sich am meisten über den Preis, der ein Œuvre von unbeirrbarem Engagement und barocker Erzähllust krönte. Geprägt durch den 2. Weltkrieg, ging Grass in der Danziger Trilogie («Die Blechtrommel», «Katz und Maus», «Hundejahre») dem deutschen Trauma ebenso provokativ wie brillant zu Leibe. Im «Butt» schildert er maliziös und phantasievoll die (männlich geprägte) Menschheitsgeschichte bis 1975 , «Die Rättin» evoziert das Ende der Zivilisation nach dem atomaren GAU, «Zunge zeigen» ist die Frucht eines Indien-Jahres, «Unkenrufe» eine böse Parabel auf die Rolle der Deutschen nach 1989, «Ein weites Feld» die skeptische Abrechnung mit der deutschen «Wende», «Mein Jahrhundert» die novellistische Vision von hundert bewegten Jahren, «Im Krebsgang» ein starkes Stück deutsche Vergangenheitsbewältigung vor dem Menetekel des neuen Rechtsradikalismus. Was immer er schrieb: Grass genoss im Ausland mehr Anerkennung als im eigenen Land. Ein Faktum, das er selbst relativierte, als er 2006 im autobiographischen Roman «Beim Häuten der Zwiebel» zugab, dass er mit 17 Jahren der Waffen-SS angehört habe. Obwohl er im Panzer-Regiment der 10. SS-Panzer-Division Frundsberg nicht selbst mit Schiessen betraut gewesen sein soll, löste das Bekenntnis weltweit Entrüstung aus und hatte Folgen für Grass' Reputation, die er bis zu seinem Tod am 15.April 2015 nicht mehr korrigieren konnte. Dies um so mehr, als er 2012 mit seinem in der «Süddeutschen Zeitung» veröffentlichten Gedicht «Was gesagt werden muss» - es warf Israel vor, mit seinen Atomwaffen den Weltfrieden zu gefährden und mit einem Erstschlag das iranische Volk auslöschen zu wollen - auch noch den Verdacht des Antisemitismus auf sich gelenkt hatte.