Lumpenproleten auf der Bühne: Maxim Gorki (1868-1936)

Jahrzehnte vor seiner offiziellen Erfindung feierte der sozialistische Realismus am 31.Dezember 1902 seinen grössten Triumph: An jenem Abend wurde von K.S.Stanislavski im Moskauer Künstlerheater Maxim Gorkis «Nachtasyl» uraufgeführt. «Na dnje», «Auf dem Grund», hiess der Dreiakter auf Russisch, und erstmals sind da nicht Könige, Fürsten oder Gutsherren, sondern Lumpenproletarier Helden und Akteure. Falschspieler, Trunkenbolde, Mörder, Zuhälter, Dirnen treffen sich in der Kneipe des Schinders Kostylew und seiner herrschsüchtigen Frau, die am Ende einen von ihnen zum Mord an ihrem Ehemann anstiftet, weil der sie mit ihrer jüngeren Schwester Natasche eifersüchtig gemacht hat. Ein intaktes Gewissen hat einzig noch der Pilger Luka, der den andern selbstlos hilft. Satin aber, der philosophische Arbeiter, in dem Gorki sich selbst porträtiert, gelangt zur Erkenntnis des ganzen Unglücks und der ganzen Not, aber auch zum Schluss, dass ein menschenwürdigeres Los nur durch die Menschen selbst herbeigeführt werden könne: «Es ist alles im Menschen, alles für den Menschen!» Schon einen Monat nach der Moskauer Uraufführung inszenierte Max Reinhardt «Nachtasyl» auf ebenso erschütternde Weise in Berlin und trug damit wesentlich zum Mythos vom revolutionären Stück eines revolutionären Autors bei, der erst nach dem Untergang der UdSSR abzubröckeln begann. Gorki, der mit «Die Mutter» (1906) auch den sozialistischen Mutterkult bedient hatte, war selbst keineswegs proletarischer Herkunft und erhoffte sich von einem Umsturz auch nicht eine Erneuerung der Kunst. Stockkonservativ, wie er künstlerisch war, bekämpfte er 1917/18 Lenin und die Revolution, liess sich aber später, nach der Rückkehr aus dem italienischen Exil, den Kult um seine Person dennoch gefallen und verteidigte am Ende nicht nur Stalins Politik, sondern auch die Notwendigkeit des mörderischen Archipel Gulag.