Salomon Gessner 1730–1788

Oft reiss ich mich aus der Stadt los und fliehe in einsame Gegenden; dann entreisst die Schönheit der Natur mein Gemüt all dem Ekel und all den widrigen Eindrücken, die mich aus der Stadt verfolgt haben; ganz entzückt, ganz Empfindung über ihre Schönheit, bin ich dann glücklich wie ein Hirt im goldnen Weltalter und reicher als ein König.» So beschrieb der Zürcher Verleger, Maler und Schriftsteller Salomon Gessner die Umstände, unter denen jene «Idyllen» entstanden, mit denen die deutschsprachige Prosa im 18. Jahrhundert erstmals Weltgeltung erlangte. 1756, als sie in erster Auflage erschienen, hatte ihr scheinbar harmloser Titel durchaus einen pazifistischen Beiklang, begann im selben Jahr doch der Siebenjährige Krieg und wusste jedermann, was mit den einleitenden Sätzen gemeint war: «Nicht den blutbespritzten kühnen Helden, nicht das öde Schlachtfeld singt die frohe Muse; sanft und schüchtern flieht sie das Gewühl, die leichte Flöt’ in ihrer Hand.» Der heroisch-kriegerischen Gegenwart und dem prüd-reglementierten Leben im zwinglianischen Zürich stellten die Texte des 26-jährigen Autors, der eben noch für seinen Hirtenroman «Daphnis» von der Zensur gerügt worden war, die Vision eines ganz und gar unbürgerlichen goldenen Zeitalters gegenüber. In einer an den Griechen Theokrit und dessen «Eidyllia» erinnernden bukolischen Landschaft mit Fluss und Insel, Quelle und Hain, Nymphen und Faunen liess er ideale Gestalten wie Damon, Phyllis, Lycas, Chloë und Daphne auf sinnlich-offenherzige, schwärmerische Weise Liebesfreud und Liebesleid erleben: «O schönes Mädchen, fuhr der Jüngling fort, indem sein Auge schmachtend sie anblickte, wie wär’ ich entzückt, wenn du mir vergönntest, mit dir in den Hain zu gehen und an deiner Seite sitzend deinem Gesang mit diesen Saiten zu folgen!» So freizügig und auflüpfisch seine «Idyllen» daherkamen: Der am 1. April 1730 geborene und am 2. März 1788 verstorbene Verlegersohn Salomon Gessner war alles andere als ein Aussenseiter und Rebell. Er war nicht nur Teilhaber der – heute noch existierenden! – Verlagsbuchhandlung Orell, Gessner, Füssli & Co., sondern auch Mitbesitzer der Porzellanmanufaktur Kilchberg, er sass im Grossen wie auch im Kleinen Rat, hatte Ämter wie jenes eines Obervogts in Erlenbach oder eines Oberaufsehers über den Sihlwald inne, war als Maler ebenso erfolgreich wie als Schriftsteller – als zweites wichtiges Werk sollte man sich «Der Tod Abels» merken – und gehörte 1780 auch der ersten Redaktion der späteren «NZZ» an. Das Vorbild seiner Daphne aber war nicht ein Fantasiegespinst, sondern seine spätere Ehefrau, die reiche Ratsherrentochter Judith Heidegger. Überhaupt waren die in alle Weltsprachen übersetzten freiheitstrunkenen «Idyllen» auch finanziell ein derart durchschlagender Erfolg, dass sie zu einem eigentlichen Zürcher Wirtschaftsfaktor wurden und nicht einmal Goethes übler Verriss der zweiten, 1772 erschienenen Lieferung der anhaltenden Popularität des unter anderem auch vom Aufklärer Denis Diderot hochverehrten Werks etwas anhaben konnte ...