Kaspar Freuler

Er sei »fruchtbar wie ein Kaninchen«, soll ein Kritiker von Kaspar Freuler gesagt haben, und tatsächlich ist es erstaunlich, wieviel dieser Mann, der innerhalb der Schweizer Volksliteratur jahrzehntelang das Land Glarus und dessen Dialekt verkörperte, neben seinem Beruf als Primarlehrer produziert hat. Zumeist in Zusammenarbeit mit H. Jenny-Fehr veröffentlichte er seit 1924 an die 6o Dialektstücke, die auf Laienbühnen und in dramatischen Vereinen bis zu 3000 Aufführungen erlebten und teilweise sogar auf französisch gespielt wurden: leichte, unterhaltsam Kost mit einem Hang zum Pädagogischen, nicht für die Ewigkeit, sondern für den »Bunten Abend« des Jodlerklubs oder des Turnvereins geschrieben. Ähnlich verhält es sich, von einzelnen Glanzstücken abgesehen, auch mit Freulers unzähligen hochdeutsch geschriebenen Geschichten und Skizzen, die in Kalendern, Sonntagsblättern oder im Nebelspalter erschienen, bevor er sie unter Titeln wie Veilchensalat und Besseres zu Sammelbändchen bündelte.
Vor solchem Hintergrund überrascht es nun aber nicht wenig, dass der gleiche Kaspar Freuler auch der Verfasser jenes Buches ist, mit dem die am 18. Juni 1782 zu Glarus enthauptete letzte Hexe Europas ihren Einzug in die ernsthafte deutsche Literatur nahm. Kaspar Freulers Roman Anna Göldi. Die Geschichte der letzten Hexe, der erstmals 1945 bei der Büchergilde Gutenberg erschien und bis heute neun Auflagen erlebte, entwirft auf 384 engbedruckten Seiten ein vielschichtiges, breitgefächertes Gemälde jenes für die Obrigkeit blamablen, höchst parteiisch geführten »Hexenprozesses«. Nicht nur die Gestalt Anna Göldis ist dabei mit feiner psychologischer Einfühlungskraft erfasst, auch die Kontrahenten werden jenseits aller Schwarzweissmalerei so dargestellt, dass Punkt für Punkt des spannend erzählten Geschehens glaubwürdig und plausibel wirkt.
Wer aber meinte, mit diesem, seinem mit Abstand besten Werk habe Kaspar Freuler seinen Namen unauflöslich mit Anna Göldis Lebensgeschichte verknüpft, die er 1948 auch dramatisierte und von der das Radio noch 1975 eine nach seinem Roman gestaltete Hörspielserie ausstrahlte, der hatte nicht mit Eveline Hasler gerechnet, die den Stoff 1982 nach den Quellen neu aufnahm und von spezifisch fraulicher Warte aus zu einer eindringlichen Literaturcollage verdichtete. Überflüssig machte Anna Göldin. Letzte Hexe Freulers Leistung jedoch keineswegs. Die Besonderheiten von Eveline Haslers Version - ihre sprachliche Expressivität sowie die dezidierte emanzipatorische Parteinahme zu Gunsten der Aussenseiterin von damals - weiss nämlich erst derjenige voll zu schätzen, der Freulers konventionellere, aber sehr viel weiter ausgreifende, nüchternere Fassung zum Vergleich und zur Ergänzung hinzuzieht.

Freulers Anna Göldi ist im Verlag Baeschlin, Glarus, Eveline Haslers Anna Göldin. Letzte Hexe bei Nägel & Kimche, Zürich, greifbar. (Literaturszene Schweiz)