Die Affäre «Crainquebille»: Anatole France (1844-1924)

Es ist Winter, es ist mörderisch kalt in Paris, und der alte Penner, der dem dick vermummten Polizisten etwas zuruft, macht einen jämmerlich verkommenen Eindruck. Ja, doch, «mort aux vaches» hat er gerufen - die Worte, die am Anfang seines ganzen Elends standen, die Worte, die er schon mal einem Polizisten zugerufen haben soll und die ihn vor Gericht und ins Gefängnis brachten, die Worte, die letztlich auch der Grund dafür sind, dass niemand mehr von ihm, dem Zuchthäusler, Gemüse kauft, und dass aus dem ehrbaren Händler Jérôme Crainquebille das verkommene Subjekt Crainquebille geworden ist: ein Mann, der in letzter Verzweiflung einen Polizisten attackiert, nur weil er, statt zu verhungern und zu erfrieren, ins Gefängnis kommen will! Und was antwortet der beleidigte Ordnungshüter? «Machen Sie, dass sie weiterkommen!» «,Crainquebille', suivi de ,Putois', ,Riquet' et plusieurs autres récits profitables» erschien 1903 in Paris, und die Leser hatten die Dreyfus-Affäre noch zu gut in Erinnerung, um zu verkennen, dass die Erzählung vom Strassenhändler Crainquebille, den eine parteiische Justiz einer Bagatelle wegen in den Untergang treibt, irgendwie mit jenem aufsehenerregenden Justizskandal in Beziehung stand. Und tatsächlich war der Verfasser der Novelle, Anatole France, zusammen mit Emile Zola ja auch einer von jenen gewesen, die Dreyfus verteidigt hatten. Wie dieser elegante und stilsichere französische Romancier, der 1921 mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde, denn auch lebenslang unbeirrt an der Seite der Verfolgten, Ausgebeuteten und Unterdrückten stand und sich konsequent mit all jenen anlegte, die das Elend für ihre Zwecke missbrauchten. Die Revolutionäre und Weltverbesserer verärgerte er 1908 mit der «Pinguin-Insel», wo bloss unheilbar destruktive Menschen leben, die Patrioten brüskierte er im selben Jahr mit einer völlig entmystifizierten «Jeanne d'Arc», die Frömmler und Sektierer aber brachte er mit «La révolte des anges» gegen sich auf, wo er 1922, zwei Jahre vor seinem Tod mit 80 Jahren, die Idee einer göttlichen Ordnung als (folgenschweres) Hirngespinst denunzierte.