Urs Faes *1947

Wo das Gras so grün, der Nebel so dicht und körperlich, die Ereignislosigkeit derart gross sind, da bleibt nichts anderes als die Flucht in Geschichten.» Urs Faes, geboren am 13. Februar 1947 in Aarau, studierte Germanistik in Zürich und war Lehrer in Olten, als er nach zwei Gedichtbänden 1983 mit «Webfehler» als Erzähler debütierte. Die Geschichte zweier Frauen, von denen die eine mit dem Webfehler einer tödlichen Krankheit fertigwerden muss, erreichte die spätere Qualität seines Erzählens noch ebenso wenig wie «Bis ans Ende der Erinnerung» von 1986 – obwohl die Spurensuche eines Mannes, der sich auf einer Insel seiner Vergangenheit stellt, im Titel bereits jenes Wort mitführt, das für Faes’ Schreiben spätestens seit «Sommerwende» (1989) zentral sein würde. Erstmals spielt in diesem 1941 in der Schweiz angesiedelten Zeitgemälde die eigene Familiengeschichte – die unglücklich verheiratete Mutter, der an seiner verlorenen Liebe krank gewordene Vater – eine Rolle und wird das Schreiben zu dem, was im nächsten, wieder eher fiktiven Roman, «Alphabet des Abschieds» von 1991, so formuliert ist: «Das Vergangene umgraben im Erzählen: als gäbe es die Archäologie der Erinnerung.» Die Familiengeschichte zum Kampf Vater/Sohn gesteigert hat Faes 1994 in «Augenblicke im Paradies», diesem Roman, der die Geschichte zwischen 1914 und 1950 mittels der Zuckerbäckerphilosophie eines deutschen Einwanderers sinnlich-unmittelbar aufs Tapet bringt. Nach 1945 hiess es Kaugummi statt Karamellen produzieren, denn: «Diese Generation hatte mit Trümmern, Scherben und Toten geendet. Weh dem Bonbon, das daran erinnerte, finis Germaniae, finis Caramellum, finis sucrum.» 2001 nahm der Internatsroman «Und Ruth» das Autobiografische wieder auf und verband es mit einem bestürzenden Liebessdrama, das virtuos die zwei Themen engführt, die für Faes elementar sind: Liebe und Tod. Noch einmal, 2008 in «Liebesarchiv», hat er die Familiengeschichte aufgerollt und den Sohn auf der Suche nach der geheimen Liebesgeschichte des Vaters ein berührendes Beispiel ungelebten Lebens aufdecken lassen. Auch da, wo Faes von der eigenen Geschichte Abstand nimmt, sind ihm grossartige Erzählwerke zu den verschiedensten Lebensbereichen geglückt. In «Ombra» (1997) ist die Suche nach unterschiedlichen Vergangenheiten in der künstlerischen Welt von Piero della Francescas «ombra e luce» angesiedelt, obwohl auch da Malen nur allzu deutlich mit Schreiben konform geht. «Als hätte die Stille Türen» (2005) stellt die Liebesgeschichte von Alban Berg und Hanna Fuchs der Beziehung zwischen einem Sterbeforscher und einer Sängerin gegenüber. «Wörter sind wie Türen, aus der Stille, in die Stille, sie schaffen Weite, in der wir uns bewegen können, schaffen Raum», heisst es in dem Buch einmal. Ist es hier die Musik, so ist es im bislang letzten Roman, «Paarbildung» von 2010, die Medizin, die das Literarische sprachlich erweitert. Meret ist auf den Tod krank, als sie den Geliebten von einst als Therapeuten in einem Spital wiedersieht. Paarbildung ist da zwar ein Begriff aus der Onkologie, meint aber auch die späte Begegnung der zwei Protagonisten in der sterilen Welt einer Krebsstation, eine Begegnung, die umso bewegender ist, als am Ende zwischen Liebe und Tod alles offenbleibt.

Urs Faes

Drei Romane sind es, mit denen der Aargauer Urs Faes sich im letzten Jahrzehnt einen Namen als subtiler, die jüngste Vergangenheit mit literarischen Mitteln skeptisch ins Blickfeld rückender Erzähler gemacht hat: «Sommerwende» von 1989, das Buch, das zum Zeitpunkt der pathetischen Diamant-Feiern eine mit Frontismus und Antisemitismus zusammenhängende Mordgeschichte aus dem Jahre 1941 ans Licht holte und erahnbar machte, wie die «kleinen Leute» die damalige Zeit erlebt haben müssen. «Augenblicke im Paradies» von 1994, die autobiographisch inspirierte Darstellung der Nachkriegszeit in einem Aargauer Bauerndorf, in das die Zuckerbäckereien eines deutschen Fabrikanten paradiesische Süsse hineinbringen und wo ein junger Mann der Phantasie mehr zu trauen beginnt als der ihn umgebenden bigotten Realität. Und schliesslich «Ombra» von 1997, der Roman, der vordergründig als eine Kriminalgeschichte im Kunsthistorikermilieu und als eine Hommage an Piero della Francesca angelegt ist, der aber wie kaum ein anderes Buch dieser Jahre die verunsicherte schweizerische Befindlichkeit am Ende des 20.Jahrhunderts zum Ausdruck bringt.
«Schreiben dreht sich, wie das Leben selbst, nur um wenige Dinge, vielleicht nur um zwei, Liebe und Tod», erkennt der Ich-Erzähler von «Ombra» am Grab seines Freundes, und Urs Faes’ neuester Roman, «Und Ruth», scheint sich in seiner Kargheit und Lapidarität genau diese Erkenntnis zu eigen gemacht zu haben.
Wie in den früheren Büchern geht es Urs Faes auch da um die Vergegenwärtigung und Bewältigung von Erinnerung. Aber diesmal verzichtet er bewusst auf jene Vielstimmigkeit, auf jene Vielzahl von Handlungsebenen und Perspektiven und auf jene sinnliche Fülle und Farbigkeit, die sein Erzählen in letzter Zeit ausgezeichnet hat und die z.B. in «Alphabet des Abschieds» in der Süsswarenphilosophie des Fabrikanten Brockendorff und in «Ombra» in den Bildern von Piero della Francesca manifest geworden ist. «Und Ruth» ist ein schnörkelloser, an den rhapsodischen Rhythmus einer Trauerode gemahnender Zwiegesang zwischen einem Ich und einem Du. Vielleicht ist es aber letztlich auch nur ein Monolog, denn diese Ruth, die da den Ich-Erzähler mit hartnäckiger Unnachgiebigkeit zwingt, Schritt für Schritt seine Internatsjahre und die Vorkommnisse um den rätselhaften Tod des Klassenkameraden und Zimmergenossen Erich zu rekapitulieren, tritt in Tat und Wahrheit gar nie wirklich in Erscheinung, sondern ist wie alle andern Figuren dieser grossartigen Todes-, Liebes- und Gefängnisvision bloss Teil einer wenig verlässlichen, bruchstückhaften, aber bedrohlich wuchernden und drängenden Erinnerung.
Auf dem Bahnhof jenes Ortes, wo er seine Internatsjahre verbracht hat, fällt diese Erinnerung eines Morgens über den Erzähler her und lässt ihn nicht mehr los, bis er zu der letzten, verzweifelten Bereitschaft gelangt ist, die Intrige, die damals seinen Kameraden in den Tod getrieben hat, noch Jahrzehnte später mit dem eigenen Tod zu büssen. Denn dann und erst dann wäre die Geschichte wirklich abgeschlossen und könnte diese Ruth, die sich wie eine Rachefurie in seinem Bewusstsein eingenistet hat, mit den Worten «Und das Vergangene ist vergangen» einen Schlussstrich unter das Ganze ziehen.
Zunächst jedoch, auf den ersten Seiten des Buches, hat der Erzähler vollständig vergessen und verdrängt, was 1961 geschah, ja nicht einmal der Name Ruth fällt ihm noch ein, und es gehört zu den staunenswerten Leistungen dieses Romans, wie sich das Geschehen im Bewusstsein des Protagonisten, aber auch in der Erkenntnis des Lesers aus vagen Andeutungen erst allmählich zu einer Geschichte zusammensetzt. Und zwar nicht in linearer Abfolge, sondern aus dem Wechsel zwischen einer Bildbeschreibung und einer Reihe von erzählerischen Momentaufnahmen heraus, die das Leben im Internat beschreiben und indirekt zum Verständnis dessen beitragen, was sich auf dem Bild mit quälender Langsamkeit herauskristallisiert und verdeutlicht.
Hoch oben, auf dem Rand einer Staumauer steht, von Kloster und Internat her gut sichtbar, ein Schüler und macht Anstalten, sich in die Tiefe zu stürzen. Später gesellt sich von der Seite her, auf einer Böschung, eine junge Frau hinzu, die ihn von seinem Vorhaben abhalten will. Dass es sich dabei um den Internatsschüler Erich und jene Ruth handelt, mit der der Ich-Erzähler sich im Gespräch befindet, das erfahren wir erst nach und nach, und gut sechzig Seiten dauert es, bis wir mit Sicherheit wissen, dass weder Ruth noch die Lehrerschaft noch die Feuerwehr Erich haben retten können und er an jenem Septembertag des Jahres 1961 tatsächlich vom Stauwehr in den Tod gesprungen ist.
Während wir gebannt auf diese immer wieder neu evozierte Todes-Szenerie blicken, führt uns der Erzähler in kürzeren oder längeren Erinnerungsschüben das Leben im Internat vor Augen: Die Ankunft der neuen Schüler zu Beginn des Schuljahres, das Initiationsritual mit der «Taufe» im Klosterteich, die Peinlichkeit der Besuchssonntage, die voyeuristischen Vorstösse in Richtung Küchenpersonal, die ersten erotischen Abenteuer der Allermutigsten mit den Töchtern des «Zollhaus»-Wirts und vor allem natürlich die Methoden und Eigenarten der verschiedenen Lehrer, die eine «Pädagogik der Härte» verfolgen und unter denen der sadistische, im Zeichen Richard Wagners unterrichtende Physiklehrer Kauer und der nach den konservativ-schöngeistigen Devisen und Deutungen Emil Staigers dozierende Deutschlehrer Mangold den nachhaltigsten (negativen) Eindruck hinterlassen. Es wird bald einmal klar, dass der Selbstmord des Schülers Erich nicht unabhängig von der bedrückenden Atmosphäre in der mit Repression und Nötigung operierenden Lehrererziehungsanstalt gesehen werden kann: Erich fühlt sich in seinem ausgesprägten Individualismus und seinem verträumten Wesen nicht nur unter den Mitschülern, sondern auch innerhalb des Internatsbetriebs isoliert, und es geht wie so vieles in dem Buch nicht eindeutig aus den Schilderungen und Beschreibungen hervor, ob dies vielleicht sogar in Zusammenhang mit seinem bloss andeutungsweise erwähnten Judentum steht. Ausschlaggebend für seine Tat ist aber nicht dieser «Internatsrappel», den er mit dem Ich-Erzähler teilt, sondern ein Beziehungskonflikt, der äusserst subtil in die Internatsgeschichte eingearbeitet ist und den sich der Leser aus vielerlei Indizien, Andeutungen und Verweisen weitgehend selbst zusammenreimen muss. Heimlich war der Ich-Erzähler nämlich auch seinerseits in jene Ruth verliebt, die Erichs ganzes Glück ausmachte und die ihn die Unerquicklichkeiten des Internatslebens einigermassen unbeschadet überstehen liess. Wie sich allmählich herauskristallisiert, stand der Ich-Erzähler auch hinter den beiden fatalen gefälschten Briefen, die am Sommerfest des Internats zu Bruch zwischen Erich und Ruth führten und die ihn letztlich auch in den Selbstmord getrieben haben müssen. Wie stark, wie tödlich ernst die Liebesverstrickung der drei jungen Menschen gewesen sein muss, kommt am deutlichsten in jenem Augenglick zum Ausdruck, als Ruth unter dem Stauwehr den toten Erich in den Armen hält. «Noch jetzt beneide ich den Toten darum, wie zärtlich ihn Ruth gehalten hat», ist er sich Jahrzehnte später noch sicher, und die Intensität und Unverbrüchlichkeit dieser verlorenen Liebe zu einer längst seinen Augen entschwundenen Frau macht zum einen begreifbar, wieso sie ihm nach wie vor als imaginäre, drohende und warnende Gesprächspartnerin vor Augen stehen kann, zum andern aber mildert diese mit vernünftigen Mitteln nicht erklärbare, verrückte Liebe auch jenen fatalen Eindruck, der sich beim Lesen immer mehr verstärkt und sich schliesslich auf der letzten Seite in dem Satz «Und du könntest endlich sagen, das Scheusal ist tot», endgültig bestätigt findet: dass die Geschichte nämlich von einem Schuldigen, von einem heimlichen Mörder aus Intrige und Eifersucht, erzählt ist und alles, was in dem Buch gesagt wird, letztlich als eine Apologie, eine Selbstverteidigung eines Schuldigen gesehen werden muss.
Man hat, wie das in unserem Medienzeitalter so üblich ist, Urs Faes’ neuen Roman sofort auf seine autobiographische Dimension reduziert, hat eine Buchpremiere am Schauplatz, im Kloster Wettingen, durchgeführt und die Geschichte als Coming out eines ehemaligen Internatszöglings reklamiert. Damit wird man aber diesem Buch nur sehr bedingt gerecht. Die sich allmählich herauskristallisierende negative Zeichnung des Helden verbietet eine autobiographische Deutung eigentlich von selbst, und im übrigen ist dieser melancholische Trauergesang eines früh Schuldiggewordenen, dieser Versuch, für immer Vergangenes mit Worten und Bildern nochmals heraufzubeschwören, um damit ins Reine zu kommen, viel zu sehr zu Dichtung, zu grosser, überzeugender Literatur geworden, als dass man mit Klatsch- und Tratschgeschichen etwas zu seiner Erhellung beitragen könnte.
(«Und Ruth» erschien 2000 im Suhrkamp-Verlag, der vorliegende Text in der Zeitung «Der Bund»)


Beitrag zu «Augenblicke im Paradies» im «Bund» vom 26.11.1994

Beitrag zu «Ombra» im «Bund» vom 11.10.1997

Beitrag zu «Und Ruth» im «Bund» vom 15.04.2001

Beitrag zu «Als hätte die Stille Türen» in der «Weltwoche» vom 25.07.2001

Beitrag zu «Augenblicke» im «Bund» vom 06.08.2006

Beitrag zu «Paarbildung» in der «Sonntagszeitung» vom 07.11.2010

Beitrag zu «Sommer in Brandenburg» in der «NZZ» vom 30.03.2014

Beitrag zu «Halt auf Verlangen» in der «NZZ» vom 29.01.2017

Beitrag zu «Raunächte» in der «NZZ am Sonntag» vom 28.10.2018

Beitrag zu «Untertags» in den CH-Medien vom 26.10.2020