Friedrich Dürrenmatt

Gibt es überhaupt noch jemanden, der Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» noch nie gesehen hat? Wer erinnert sich nicht lebhaft an die Ankunft der Milliardärin auf dem Bahnhof von Güllen, an die von ihr angekündigte spektakuläre Konjunkturspritze mit der sensationellen Mordklausel, an die Begegnung der mondänen Claire mit Ill, dem Geliebten von einst, der sie im Elend sitzenliess und nun mit dem Tod dafür büssen soll? Unvergesslich auch das pseudodemokratische Gemeindetribunal, das im Namen der Gerechtigkeit einen Menschen nichts anderem als der nackten Profitgier zum Opfer bringt. Längst gehört Der Besuch heute weltweit zu den meistgespielten Stücken, Hollywood hat ihn mit Ingrid Bergmann und Anthony Quinn verfilmt, Gottfried von Einem benützte ihn als Opernlibretto, und nicht zuletzt verlernten ganze Generationen von Gymnasiasten aller Länder über diesem Stück ein paar Schulstunden lang das Gähnen.
Als Klassiker zur Welt gekommen ist Dürrenmatts Besuch allerdings nicht. Als das Stück am 29. 1. 1956 im Zürcher Schauspielhaus mit Therese Giehse und Gustav Knuth in den Hauptrollen von Oskar Wälterlin aus der Taufe gehoben wurde, spendeten vor allem die ausländischen Kritiker einhelliges Lob. Die Schweizer aber reagierten mit Ausnahme von Elisabeth Brock zurückhaltend bis sauer. Die NZZ zählte genüsslich die »Anleihen aus der Weltdramatik« zusammen und fand, der » entfesselte Berner« ermüde Hörer und Zuschauer »namentlich im letzten Akt«. Der Bund brachte einen totalen Verriss, und Jakob Bührer sah sich im Volksrecht mit den katholischen Neuen Zürcher Nachrichten darin einig, dass dem Stück das Positive fehle. Nicht verkannt wurde allerdings der gesellschaftskritische Ansatz dieses »höchst unbequemen Stückes« (NZZ). Für den NZN-Kritiker klang der Beifall des Publikums denn auch so, »als habe ein Frechling an viele wunde Stellen gerührt«.
Eine solche wunde Stelle muss Dürrenmatt auch bei den Verantwortlichen der »Pro Helvetia« getroffen haben, die das bereits vereinbarte Gastspiel des Zürcher Schauspielhauses beim Pariser Theaterfestival 1956 durch die Verweigerung der Subventionierung verhinderten, weil sie eine Pariser Aufführung des Besuchs als »nicht im Sinne schweizerischer Kulturpropaganda stehend« betrachteten. Als die Gelder von privater Seite doch noch zusammengetrommelt werden konnten, war es zu spät. Paris sah in jenem Sommer den Besuch der alten Dame nicht, dafür aber hat ihn seither die ganze Welt gesehen, und längst könnte sich die Schweiz keine wirksamere »Kulturpropaganda« mehr denken als eben diesen jahrzehntelangen Bühnenhit. Warum aber taten sich die Schweizer, als er noch kein bestandener »Klassiker« war, so schwer mit dem Besuch der alten Dame? Doch wohl deshalb, weil die tiefste, für das Musterland der Demokratie schmerzliche Wahrheit dieser Parabel bedeutet, dass ein demokratischer Entscheid,von lauter Egoisten zu eigenem Nutzen gefällt, gleichzeitig höchst demokratisch und höchst unmoralisch sein kann.
Der Besuch der alten Dame ist als Diogenes-detebe 20835 erhältlich.(Literaturszene Schweiz)