Heinrich Danioth 1896–1953

Maria und Josef sind Emigranten, denen der Wegknecht Joder im tiefen Schnee der Urner Berge sein «Gädäli» zuweist. Ehe das Weihnachtswunder geschieht und die drei Könige auf Skiern nach dem Jesuskind suchen, geht es aber noch den Häschern an den Kragen, die hinter den Emigranten her waren: Bruno aus Deutschland ruft «Heil! Heil!», Nero aus Italien «Evviva!», als «d’ Läüwi chunnt» und sie unter sich begräbt. Das «Urner Krippenspiel» ist für Marionetten geschrieben und wurde am 14. Januar 1945 in Altdorf durch die Gruppe «Gelb-Schwarz» uraufgeführt. Entstanden ist es im Oktober 1944 in einer verschneiten Alphütte im Meiental, als der Verfasser, von einem frühen Schneefall überrascht, tagelang eingeschlossen war. Dieser Verfasser aber ist eine der bemerkenswertesten Gestalten der Schweizer Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts; ein Künstler, den wir wohl noch mehr schätzen würden, wenn er nicht buchstäblich das Opfer der Geistigen Landesverteidigung geworden wäre. Gemeint ist der am 1. Mai 1896 in Altdorf geborene und am 3. November 1953 in Flüelen verstorbene Maler, Zeichner und Karikaturist Heinrich Danioth. In den zwanziger Jahren war er als «wildes Originalgenie» in Erscheinung getreten, das nicht nur den «Nebelspalter» mit skurrilen Karikaturen belieferte, sondern Bilder und Zeichnungen von abgründiger Dämonie produzierte. Ein Künstler, der seine Eigenwilligkeit nicht irgendwelchen Lehrern verdankte, sondern einem existenziellen Ausgeliefertsein an die physischen und seelischen Wirklichkeiten der elementaren, dunkel-bedrohlichen Bergwelt. Weshalb die Unwägbarkeit der Nacht, das Grausen des Winters, das Unglück einer verfehlten Liebe, die Apokalypse von Bergsturz und Lawine, die Angst, die Verzweiflung und der Tod die ihm angemessenen Themen waren. Und nicht das, was er, um überleben zu können, brav und konventionell als Auftragsarbeiten ausführte: das Wandbild am Bundesbrief-Archiv in Schwyz (auf das Bundesrat Etter ganz direkt korrigierend Einfluss nahm), die romantisierende «Föhnwacht» im Bahnhof Flüelen, die banale Geschichte des Gummis am Portal der Dätwyler AG in Altdorf. Immer aber, wenn er den konventionellen Vorstellungen widersprach, kam es zu Skandalen, die seine Kräfte erschöpften und zur Folge hatten, dass das Rebellische und Ungestüme, das aus ihm hervordrängte, zugunsten von etwas Harmonischem und allgemein Akzeptiertem paralysiert wurde. Das begann mit dem Konflikt um die als zu modernistisch empfundenen Bilder im Altdorfer Tellspielhaus und mit der ersten Fassung seiner Schwyzer Fresken, ging weiter, als er in Flüelen ein provozierend modernes Atelier baute, und erreichte einen einsamen Höhepunkt, als Uri ihn 1951 für seine (als zu wenig schön empfundene!) Teufelsdarstellung in der Schöllenen-Schlucht praktisch zur Unperson erklärte. Wer den eigentlichen, originalen Heinrich Danioth kennenlernen will, halte sich den anarchischen «Bauerntanz» von 1923 vor Augen, den Linolschnitt «Die Hinrichtung» von 1924, das erotisch-beklemmende «Ruhende Hirtenpaar» von 1923, sein allerletztes Bild, «Bärentanz» – oder eben das «Urner Krippenspiel» von 1944, das Weihnachten mit der Asylproblematik verknüpft und in seiner kraftvoll-elementaren Machart nach wie vor nichts von seinem herben Zauber verloren hat.