Paul Claudel 1868-1955

«Mein Herz hat sich in Ihr Herz hineingeworfen, allem zum Trotz, wie im Wahnsinn, selbst verloren, verzweifelt, ohne etwas einsehen noch wissen zu wollen, gegen jedes Gesetz, gegen jede Vernunft und jede Meinung.» 1906, als Paul Claudel seiner Geliebten Rosalie Vetsch diese Worte schrieb, hatte sie ihn längst endgültig verlassen und rang er sich, ohne sie trotz der Heirat miteiner anderen je vergessen zu können, zu jener Haltung durch, nach welcher die Liebe der Frau den Mann unter Verzicht auf die körperliche Liebe zu Gott führt. Im 1906 publizierten Theaterstück «Partage du midi («Mittagswende»), das entfernt an Tristan und Isolde erinnert, öffnet sich dem männlichen Liebenden Mesa nach der Trennung von Ysé unverhofft ein Weg in die Gnade. Die im 16. Jahrhundert spielende, ab 1919 entstandene, aber erst 1943 uraufgeführte Dramentetralogie «Le Soulier de satin» («Der seidene Schuh» )ist die spektakulärste Frucht von Claudels gescheiterter frühen Liebe und stellt nach seinen eigenen Worten «nur eine Erklärung dessen» dar, «was sich in zwei Menschenherzen abgespielt hat» . Auch da steht am Ende das Opfer des Verzicht, das hier aber förmlich zum Triumph gesteigert erscheint. Die religiöse Sublimierung der Erotik überrascht nicht bei einem Autor, dessen Leben und Werk eine starke Affinität zum katholischen Glauben hatte und der als führender Repräsentant des französischen «Renouveau catholique» galt. Geboren am 6. August 1868 in Villeneuve-sur-Fère, gestorben am 23. Februar 1955 in Paris, hatte der spätere Diplomat und Botschafter in Tokio und Washington achtzehnjährig, während einer Weihnachtsvesper in der Kathedrale Notre-Dame, zum längst verlorenen Katholizismus zurückgefunden, von dem von da an sein ganzes Werk geprägt sein sollte. Ausser «Mittagswende» und «Der seidene Schuh» wäre etwa noch das Drama «L ’Annonce faite à Marie» («Verkündigung») zu nennen, worin Claudel 1912 Violaine Vercors sein Weihnachtswunder von 1886 nacherleben liess, und die Trilogie «Le Pain dur» («Das harte Brot»), «L ’Otage» («Die Geisel») und «Le Père humilé» («Der Erniedrigte» ), die 1918/20 das Zeitalter des Materialismus als katastrophalen Irrweg diskreditierte. 1907 schon hatte Claudel in «Art poétique» («Dichtkunst») die metaphysische Dimension seines Werks offengelegt und die These aufgestellt, dass der Dichter, «der die Grossmeisterschaft über alle Worte besitzt und dessen Kunst darin besteht, sie anzuwenden», im Leser «einen harmonischen und angespannten, richtigen und starken Zustand der Einsicht hervorzubringen» vermöge. Ein Effekt, den er mit seinen an der Bibel geschulten wohlklingenden freien Rhythmen bei zahllosen Menschen auch tatsächlich auszulösen vermochte. Nur nicht beim Schriftstellerkollegen André Gide, dem Protestanten und Homosexuellen, den er mit aller Kraft zur Konversion überreden wollte – in einer Korrespondenz, die von 1899 bis 1926 dauerte und längst zu den grossen Zeugnissen der französischen Literaturgeschichte zählt. «Morgen werd ’ ich kommunizieren», schreibt er Gide zum Beispiel am 22. Dezember 1910, «welcher unendlichen Freuden, neben denen alle anderen nichts sind, berauben Sie sich!» Gide dagegen fand, Claudel «hänge drohend» über ihm, und oftmals denke er nur noch an eins: «ans Wegschleichen».