Gilbert K. Chesterton 1874–1936

Sollte der im August 2013 eingeleitete Seligsprechungsprozess erfolgreich sein, so würde mit Gilbert Keith Chesterton, geboren am 29. Mai 1874 in London, gestorben am 14. Juni 1936 in Beaconsfield, erstmals ein Krimiautor in den Heiligenkalender aufgenommen. Er ist mit den Romanen um den liebenswürdigen geistlichen «Kom missar» Father Brown bekannt geworden, der 1,93 Meter grosse und 134 Kilogramm schwere englische Journalist, Essayist und Erzähler, der sich lange mit Okkultem befasste, ehe er 1922 in die katholische Kirche eintrat und sich bald einmal als überzeugter Vertreter von deren Rechtgläubigkeit profilierte. 1904, sieben Jahre, bevorer mit «The Innocence of Father Brown» («Father Browns Einfalt») die fünf Bände Father-Brown-Geschichten zu schreiben begann, debütierte Chesterton literarisch mit einem Buch, das im London des Jahres 1984 spielt. Aha, wie Orwell, wird man sagen – und ist auf dem Holzweg. Denn «The Napoleon of Notting Hill» («Der Held von Notting Hill») ist alles andere als eine Utopie à la H. G. Wells, George Orwell, Aldous Huxley et cetera, die der Welt die schlimmstdenkbare Wendung zum bürokratischen Terrorstaat prophezeit, oder eine «Science-Fiction», die mit Robotern und Ufos die Ingenieurskunst ad absurdum führt. Nein, es ist die launige Geschichte von der Rückverwandlung Londons in ein spätmittelalterliches Märchenland und des Stadtteils Notting Hill in eine Zitadelle voll strahlender Ritter und Kreuzfahrer im Dienst einer höheren Idee. «Wir sind nur die beiden Teile eines ungebrochenen Gemütes», verkünden am Ende der zum Gott mutierte tote König und der im Herzen Kind gebliebene tote Bürgermeister von Notting Hill als Vertreter von Göttlichem und Menschlichem unisono auf dem Feld der le tzten Schlacht. «Gelächter und Liebe sind überall. Die grossen Kathedralen sind voll von lästerlichen Grotesken. Die Mutter lacht ständig über ihr Kind, der Liebhaber über die Geliebte …» Wer den Roman genau liest, stellt bald einmal fest, dass er bildhaft verspielt präjudiziert, was später – auch in den Father-Brown-Stories – Chestertons Besonderheit ausmachte: die Lust am Absurden und Grotesken und der Glaube an die Überwindung des materialistischen Nützlichkeitsdenkens durch ein neues Zeitalter der Beseeltheit, des Idealismus und des (christlich) erfüllten Daseins. Chestertons missionarische Ambitionen beschränkten sich allerdings nicht auf seine Bücher und liessen ihn nicht nur in hitzige Debatten mit George Bernard Shaw oder Bertrand Russell treten, sondern führten auch zu klaren und nicht immer ganz nachvollziehbaren öffentlichen Stellungnahmen. So lehnte er die Euthanasie und Rassenkunde des Nationalsozialismus unbedingt ab, wandte sich gegen den Kolonialismus und den Kapitalismus, vertrat aber auch die Meinung, dass man den Juden den Aufstieg in Politik und Gesellschaft verunmöglichen und ihnen ein Gebiet ausserhalb Europas zuhalten müsse. Dass er bei all seinem Kämpfertum nicht ein blosser Theoretiker und sinnenfeindlicher Asket gewesen sein kann, beweist allein schon ein Umstand, der vielleicht seiner Seligsprechung noch im Wege stehen könnte: dass nämlich jenes Hotel in Brighton, wo Chesterton mit seiner Frau, der wunderschönen Frances Blogg, jeweils abzusteigen pflegte, 1901 wegen des verliebten Turtelns des jungen Paars die Sittenpolizei alarmieren zu müssen glaubte.