Ernst Burren *1944

Im Herbst 1969 sassen WK-Soldaten im «Sternen» im solothurnischen Oberdorf beim Bier und kamen mit dem Sohn des Wirts, dem 25-jährigen Primarlehrer Ernst Burren, ins Gespräch. Er schreibe Geschichten und Verse über die Leute im Dorf, erzählte dieser, ganz so, wie er sie im «Sternen» von Kind auf habe beobachten können. Wie der Zufall es wollte, war einer der Soldaten der Verfasser der 1968 erschienenen Berner Dialektgedichte «Henusode», der Langnauer Sekundarlehrer Ernst Eggimann, dem es zusammen mit Kurt Marti gelungen war, die Mundart abseits aller Heimattümelei zur modernen Literatursprache zu machen. Eggimann wies Hugo Ramseyer auf Burren hin, der am 3. März 1970 in Bern erstmals eine Lesung mit ihm durchführte und im Zytglogge-Verlag noch im gleichen Jahr den Gedichtband «derfür und derwider» edierte. Marti hat nach «Rosa Loui» (1967) keine Dialektgedichte mehr publiziert, Eggi mann verstummte ab 1981 fast ganz, Ernst Burren aber ist der Mundart treu geblieben und hat bis hin zu «Chrüzfahrte», «Zirkusmusig», «Blaui Blueme», «Füür wärch», «Schnee schufle» und zum für September 2012 geplanten Band «Dr Troum vo Paris» insgesamt 25 Bücher in Solothurner Dialekt verfasst. Gedichte, die in ihrer Lakonie und Treffsicherheit den Dialekt virtuos zur Verschärfung und Verfremdung von Tatbeständen nutzen; Geschichten, die jedes Mal wieder eine andere Figur zum Reden bringen, die in einer elementaren, klangreichen Sprache ihr Schicksal vor uns ausbreitet: arglos und plaudersüchtig, aber immer so, dass Dinge mitschwingen, die es dem Lesepublikum ermöglichen, die Figur in der ganzen Komplexität ihrer Situation und ihres Bewusstseins und oft genug mitsamt ihrer Lebenslüge zu durchschauen. Obwohl Burren nach wie vor in Oberdorf wohnt, wo der ehemalige «Sternen» inzwischen als «Ernst Burren Huus» unter Schutz gestellt wurde, ist sein Schreiben alles andere als ein Lobgesang auf Heimat und Herkunft, sondern dokumentiert Band für Band den Übergang von einem noch einigermassen überschaubaren bäuerlichen Dasein in die trostlose Vereinzelung und Entfremdung einer seelen- und gesichtslosen Agglomeration. Da belehrt eine Frau ihre Freundin Lydia, die in panischer Angst davor lebt, ihr ständig besoffener Mann könnte ihr sein Messer in den Leib stossen, darüber, «dass me i so emene fau / es mässer nie darf zum liib uszie». Da verrät ein Mann, der die Frau, die er heiraten «musste», nie geliebt hat, dass er sich ein ThaiGirl nähme, wenn das Geld dazu reichen würde. Da schwärmt eine Frau arglos von ihrem Vater, der auf die Frage, «wies ihm im autersheim gfaui», gesagt habe: «am ene ort / mues me jo si / heigi einisch eine gseit / won är in es bschüttiloch / gheit sigi.» Mit seinem Oberdorfer Deutsch hat sich Ernst Burren ein unverwechselbar eigenes dichterisches Idiom geschaffen. Eines, das ihn zwar über die Schweiz hinaus fast unzugänglich macht, dem aber eine Einzigartigkeit im Klang und eine Schärfe in der Formulierung eignet, wie sie auf Hochdeutsch niemals zu erzielen wären. Nicht ein verwässerter Gotthelf, sondern Thomas Bernhard, Ödön von Horváth, Anton Tschechow und Gerhard Meier sind Burrens nächste Verwandte, und wer seine vielgesichtige Solothurner Comédie humaine überblickt, steht nicht vor einem Abbild der «Idylle Schweiz», sondern inmitten scheinbarer Harmlosigkeit vor jenem Abgrund, in den die Welt nach Auschwitz, Hiroshima, Srebrenica, Ruanda und Fukushima zu stürzen im Begriff ist.