Fritz Brupbacher

Das Image des Bürgerschrecks ist er lebenslang nie losgeworden, der Aussersihler Armenarzt, Anarchist und Volksaufklärer Fritz Brupbacher. Kaum hatte er das Staatsexamen bewältigt, verkündete er 1899 in der Jungen Schweiz sein Programm einer »Schweizerischen antireaktionären Bewegung« und polemisierte anderswo so wirkungsvoll gegen einen berühmten Gynäkologen, dass er wegen Professorenbeleidigung von der Doktorprüfung ausgeschlossen wurde. Da ging er hin, eröffnete eine Praxis im Arbeiterviertel und behandelte 45 Jahre lang bis zu 80 Patienten täglich, hielt daneben aufmüpfische Vorträge über Abtreibung, Emanzipation und ähnlich brisante Fragen, wurde da und dort polizeilich am Auftreten gehindert und ertrug es mit Fassung, als während des Generalstreiks vor seiner Haustüre Posten aufzogen.
Brupbacher, der Bakunins Anarchismus dem doktrinären Marxismus vorzog, war jedoch für die Linke, deren Nachwuchs sich immer wieder für ihn begeisterte, ein weit grösseres Ärgernis als für das Bürgertum, dem er zuweilen als abschreckendes Beispiel auch von Nutzen war. 1913, als die SP-Spitze seinen Parteiausschluss betrieb, scheiterte sie an einem überwältigenden Sympathie-Votum der Basis und musste sich mit der Kaltstellung begnügen, bis der erklärte Dissident von selber ging. 1921 besuchte er, inzwischen KP-Mitglied geworden, die Sowjetunion und nahm zum Entsetzen der Gastgeber selbst dort kein Blatt vor den Mund. »Ich bin«, sollte er 1930, kurz bevor auch diese Partei ihn ausschloss, der KP-Führung schreiben, »einer jener frechen Intellektuellen, die weder vor feudalen noch vor bürgerlieben, noch vor proletarischen Herren kuschen.«
Was Brupbacher als Volksredner, als Kolumnist und nicht zuletzt auch in autobiographischen Büchern wie den Erinnerungen eines Revoluzzers (1927) oder 60 Jahre Ketzer (1935, neu 1973) verkündete, war die »Revolution in Permanenz«. Und das hiess für ihn: Befreiung des Menschen zu sich selbst, zu seiner Individualität, zu natürlicher Sinnlichkeit, aber auch zur »Höchstintensität der Seele«. Ständig neue Stosskraft erhielt sein Engagement durch die leidenschaftliche Anteilnahme am Schicksal der russischen revolutionären Bewegung. Auch persönlich stand ihm russland sehr nahe, war er doch dreimal mit russischen Frauen verheiratet, von denen eine jede auf ihre Weise dazu beitrug, dass er im Lande des allgemeinen Konsenses bis zuletzt als kompromissloser Revolutionär durchzuhalten vermochte. Lydia Petrowna, seine erste grosse Liebe, brachte ihn mit ihrem Fanatismus dazu, die Politik über das persönliche Glück zu stehen. Helmi Körv, die ihm Geliebte, Patientin und Lebensinhalt in einem war, half ihm, das Scheitern der politischen Ambitionen zu verwinden. Die Ärztin Paulette Raygrodsky aber brachte ihm ab 1922 nicht nur frischen Teamgeist, sondern auch zwei veritable Doktortitel mit ins Haus: einen für Medizin und einen für Philosophie!
Im Zürcher Limmat-Verlag ist eine Neuausgabe von, «60 Jahre Ketzer» und Karl Langs Biographie «Kritiker, Ketzer, Kämpfer. Das Leben des Arbeiterarztes Fritz Brupbacher» greifbar. (Literaturszene Schweiz)