Eine Schutzhütte namens Literatur: Saul Bellow(10. Juni 1915 - 4. April 2002)

90 Jahre suchte er nach dem Sinn des Lebens und erkannte von Buch zu Buch klarer, dass am Ende nur zu einem Resultat kommt, wer der Lebens- die Todeserfahrung gegenüberstellt. 1970, in «Mr. Sammlers Planet», hat er es der Titelgestalt, die die Hölle von Auschwitz überlebte, in den Mund gelegt: Der Tod gibt dem Leben Sinn, er nimmt den Menschen in die Pflicht und verleiht dem Leben letztlich seine Würde. 2000, im letzten grossen Roman, «Ravelstein» , hat er in einem leidenschaftlichen Requiem auf den toten Freund Allan Bloom die Probe aufs Exempel gemacht und den Tod, sogar den Tod durch Aids, vorbehaltlos akzeptiert. Nicht dass Saul Bellow, geboren am 10. Juni 1915 in Quebec, das Leben nicht voll gelebt hätte! Als «Ravelstein» herauskam, brachte seine fünfte Frau eben die Tochter Naomi zur Welt, die bei seinem Tod, am 5.April 2005, fünf Jahre alt sein sollte. Und wenn es stimmt, dass seine Romane «immer ein Stück meines eigenen Lebens» waren, so durchlebte er nicht nur alle Höhen und Tiefen des 20.Jahrhunderts, sondern auch all die Utopien und Fluchtbewegungen zwischen intellektueller Ambition, amerikanischer Sendung und jüdischem Schicksal rückhaltlos mit: das beklemmende Niemandsland im Erstling «Dangling Man» (1944), den Horror vor der Massengesellschaft in «The Victim» (1947), die wirr-ausufernden «Abenteuer des Augie March» von 1953, die läuternde Todesbegegnung in «Seize the Day» von 1956, die afrikanische Selbstfindung , die Eugene Henderson 1959 im «Regenkönig» anstrebt, die Midlife-Crisis, die 1964 den Titelhelden von «Herzog» dazu bringt, massenweise Briefentwürfe an Lebende und Tote zu richten, aber auch die Ratlosigkeit, die den Protagonisten Charlie Citrine 1975 in «Humboldts Gift» dazu bringt, das Körperliche mit Hilfe der Anthroposophie überwinden zu wollen. Die lebenslange, erst im Tod befriedigte Sinnsuche aber hielt der Nobelpreisträger von 1976 durch, weil die Literatur, in der er all das thematisierte, ihm wie eine «Schutzhütte» vorkam, «in der der Geist Unterschlupf findet».