Hedwig Anneler

Wer sich früher Ethnologe nannte, war auf Exotisches wie afrikanische Hochzeitsriten spezialisiert, während die sogenannte Volkskunde sich mit der Folklore von Trachten, Jodelliedern oder Fastnachtsbräuchen befasste. Um so spektakulärer mutet es darum an, dass bereits 1917 im Berner Verlag Max Drechsel unter dem Titel Lötschen. Landes- und Volkskunde des Lötschentals ein Buch erschien, das eine schweizerische Talschaft unter Berücksichtigung sämtlicher denkbarer historischer, geographischer, biologischer, zoologischer, ethnologischer, soziologischer, ökonomischer, linguistischer und literarischer Gesichtspunkte als einen klar abgegrenzten Lebensraum ganzheitlich darstellte und untersuchte.
Verfasserin des ebenso lesbar wie spannend geschriebenen Buches war die damals knapp dreissigjährige Berner Historikerin Dr. phil. Hedwig Anneler, die kurz zuvor auch als belletristische Autorin debütiert und sich mit dem Prosaband Quatember in Lötschen unter die Vorläufer des literarischen Expressionismus eingereiht hatte. Dass ihre Lötschen-Monographie nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch zu einem wundervoll abgerundeten Gesamtkunstwerk werden konnte, dazu trug auch der Bruder der Verfasserin, der Kunstmaler Karl Anneler, bei. Er hatte das Prachtwerk mit über 200 Illustrationen ausgestattet - mit eingeschlossen die Bildnisse der Geschwister Anneler, des Verlegers und sogar der Männer, die das fertige Buch mit dem Pferdewagen zum Versand transportierten ...
Eine Zeitlang schien es, als sei Hedwig Anneler, die ledig blieb und von ihrer Produktion leben musste, zur harmlosen Unterhaltungsliteratur abgewandert. Dann aber, 1940, gelang es ihr nach vieljähriger Vorarbeit, einem historischen Stoff eine erschütternde aktuelle Brisanz zu verleihen. In ihrem Roman Blanche Gamond stellte sie das Schicksal der verfolgten französischen Hugenotten auf derart packende Weise dar, dass der Leser unwillkürlich an die Opfer des Nazi-Regimes denken musste. Dass sie genau dies beabsichtigte, hatte Hedwig Anneler schon 1930 bewiesen, als sie einen Berner Frauenkongress mit einem zündenden Vortrag über die Hugenottenflüchtlinge dazu brachte, den Bundesrat in einem offenen Brief zur Korrektur der Asylpraxis aufzufordern. Sie predigte aber nicht nur, sie handelte auch und gewährte in den Kriegsjahren auf ihrem kleinen waadtländischen Bauerngut, wo sie als Selbstversorgerin lebte, immer wieder bedrohten Menschen Unterschlupf.
Obwohl Oprecht das Buch erst druckte, als die Autorin genügend Subskribenten gefunden hatte, wurde Blanche Gamond zu einem grossen Erfolg. Nach 1945 aber geriet Hedwig Anneler schon bald völlig ins literarische Abseits, fand für ihre Texte keinen Verleger mehr und musste 1967, zwei Jahre vor ihrem Tod, gar noch machtlos zusehen, wie der Blanche-Gamond-Stoff unter Verwendung ihrer Vorarbeiten zu einem frömmlerischen Jugendbuch kolportiert wurde.
«Lötschen» ist bei Haupt, Bern, als Faksimile-Edition greifbar.
(Aus: Literaturszene Schweiz)

Anneler, Hedwig

*Thun 5.2.1888, †Givrins sur Nyon (VD) 8.5.1969, Volkskundlerin und Schriftstellerin. Nach dem Geschichtsstudium in Bern (Dr. phil. I, 1912) beschäftigte sie sich intensiv mit Bevölkerung und Geschichte des Lötschentals, das sie in ihrer 1917 erschienenen, von ihrem Bruder Karl A. illustrierten Monographie »Lötschen, Landes- und Volkskunde des Lötschentals« darstellte. Neben dem expressionist. inspirierten »Quatember in Lötschen« (1916) ist ihre bedeutendste literar. Leistung der 1940 erschienene Hugenottenroman »Blanche Gammond«. A., die sich für die Verfolgten des Naziregimes und für die Rechte der Frau einsetzte, fand zu Lebzeiten kaum Anerkennung. (Schweizer Lexikon CH 91)