Am Abgrund: Leonid N. Andrejew (1871-1919)

Einzig im Manesse-Band mit dem sträflich harmlosen Titel «Russische Liebesgeschichten» ist er auf Deutsch noch zu haben, der wohl erschreckendste, erschütterndste Text der jüngeren russischen Literatur: Leonid N. Andrejews Roman «Der Abgrund». Njemowetzkij und Sinotschka heissen die Hauptfiguren - er ein 21jähriger Student, sie eine 17jährige Gymnasiastin -, die sich auf einem Sommerspaziergang so keusch ihre Liebe erklären, dass die Berührung der Hände für sie das höchste denkbare Glück bedeutet. Aber auf dem Heimweg in die Stadt werden sie im Wald von betrunkenen Männern überfallen, und als Njemowetzkij Stunden später wieder zu sich kommt, findet er Sinotschka vergewaltigt, nackt und schwer verletzt, aber noch lebend unter einem Busch. Verzweifelt und wie im Wahnsinn küsst er die Geliebte nun, stammelt Liebesschwüre - «Von allen menschlichen Eigenschaften war ihm nur die Fähigkeit zu lügen geblieben» -, und nachdem ein Moment lang die ganze Tragweite des Geschehens offenbar geworden ist, schliesst der Roman mit dem Satz: «Und der Abgrund verschlang ihn.» So sehr schockierte der Roman 1902 mit seiner dunkel-bedrohlichen Quintessenz das Publikum, dass Andrejew schliesslich auf Flugblättern selbst von der Lektüre abriet. Aber seine weiteren Geschichten, vor allem die von den «Sieben Gehenkten» (1908), waren nicht weniger pessimistisch, und das letzte, was von ihm erschien, war «SOS», ein verzweifelter Appell an die Völker der Welt zur Rettung Russlands. Noch im gleichen Jahr 1919 starb der erklärte Gegner des Bolschewismus 48jährig in Finnland. Übrigens erschien bei Manesse auch einen ganzen Band «Erzählungen» von Andrejew, 1974 übersetzt und kommentiert vom 1977 31jährigen verstorbenen genialen Paul Gebhard.